Zwischenruf

von Dr. Christoph Weist (Wien)

"Wozu wir in der Lage sind" - Geschöpf wischen ,böser Lust' und ,Hoheit der Natur': Das Menschenbild der Reformatoren

Mit Stefan Ruzowitzkys Film "Das radikal Böse", der die Massenmorde deutscher Soldaten während des Russland-Feldzuges dokumentiert, mit dem Bekanntwerden der spießigen Privatbriefe Heinrich Himmlers ist sie wieder aktuell geworden, die Frage: Wie sind "ganz normale" Menschen zu unfassbaren Handlungen fähig? "Dieser Film erzählt, wozu wir alle in der Lage sind", hat Stefan Ruzowitzky über sein Werk gesagt . Ein schrecklicher Satz. Aber er reicht auch hinein in das kleine tägliche Miteinander einer friedlich-demokratischen Gesellschaft. Da ist der hilfsbereite Akademiker im Nachbarhaus, der seine Frau ungeniert betrügt, da ist die liebenswürdige Verkäuferin im Laden um die Ecke, die ihren Hund aussetzt, damit sie ungehindert in Urlaub fahren kann. Und weiß ich, wozu ich fähig bin, wenn ich einmal keinen Ausweg mehr sehe oder richtig in Wut gerate?

Was ist los mit dem Menschen? Die Reformatoren haben eine Antwort zu geben versucht. Sie besteht aus einem Zwar-Aber. Aber ich meine, gerade deshalb ist sie realistisch.

Die eine Seite: Das Augsburger Bekenntnis, das 1530 entstandene grundlegende Papier der Lutherischen Kirche, sagt gleich am Anfang über die Menschen, "dass sie alle von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind und von Natur keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott haben können, ferner dass auch diese angeborene Seuche und Erbsünde wirklich Sünde ist..."

Das sind harte Worte voller Resignation. Und es wird unterstrichen: Das ist "wirklich Sünde" und kann nicht entschuldigt werden. Es geschieht täglich in dieser oder jener Form und verletzt nicht nur Gott, sondern auch Menschen.

Die andere Seite: Gemäß der Bibel ist der Mensch Gottes Ebenbild. Das heißt, ich bin gewollt trotz meiner "bösen Lust und Neigung". Was mich zum Menschen macht, ist von Gott. Ich gehöre zu ihm. Der Reformator Johannes Calvin hat festgestellt: "Die Erkenntnis unserer selbst aber besteht... darin, dass wir, angesichts dessen, was uns in der Schöpfung gegeben ist, und der Güte, mit der Gott seine Gnade an uns nicht aufhören lässt, wissen, wie groß die Hoheit unserer Natur sei, wo immer sie nur unversehrt bliebe". (Inst.1559 II.1,1)

Das sind trockene Worte, aber voller Dank. Sie sprechen vom einmaligen Wert eines jeden Menschen - und von einer großen Verantwortung. Daher reagieren Christinnen und Christen oft anders als andere. Z.B. sind sie gegen die Todesstrafe. Nicht nur, weil die kein Verbrechen ungeschehen machen kann, sondern weil auch der schrecklichste Verbrecher ein Mensch mit Wert ist. Oder statt "Sterbehilfe" fordern sie Sterbebegleitung. Allzu viele Interessen und Begehrlichkeiten können einen Todkranken umgeben und seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen.

Der Mensch - "voll böser Lust und Neigung" und doch begabt von Gott mit "Hoheit der Natur": Ich weiß, das ist paradox. Aber ich glaube, dieser Widerspruch beschreibt am Besten, was mit uns Menschen eigentlich los ist. Böses und Gutes geht mitten durch mich hindurch. Ich habe nur die Möglichkeit, die Balance zu halten. Verliere ich sie, vor allem nach der bösen Seite hin, muss ich zur Verantwortung gezogen werden. Von den Menschen, vor allem aber auch von Gott.

Ja, Menschen können Schreckliches tun. Sie können aber auch verantwortlich handeln und rettend eingreifen. Ich denke, niemand entkommt dieser Zerrissenheit. Ich kann nur hoffen, dass Gott mich, wenn´s darauf ankommt, auf die richtige Seite zieht.

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