Radiokolleg - Das vatikanische Geheimarchiv

Eine Erkundung (1). Gestaltung: Christina und Martin Höfferer

Mit zweitausend Jahren Geschichte bildet die katholische Kirche die dauerhafteste Institution der Menschheit, deren Kommunikationsspeicher ein bestens gewartetes Archiv hinter hohen Mauern in Rom ist. Das Vatikanische Geheimarchiv ist das Zentralarchiv des heute kleinsten Staates der Welt, und zugleich auch des Staates mit (nach den Vereinigten Staaten) den meisten Botschaftern.

Der mythenumwobene Wissensspeicher regte nicht nur als Schauplatz im Thriller "Illuminati" die Phantasie an. Auf Papier, Pergament, Baumrinde und Seide, wie etwa ein Brief der letzten Königin der Ming Dynastie, sind unzählige Schreiben an den Papst verfasst. Über das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser, über die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern, über den Bann gegen Martin Luther und jenen gegen König Heinrich VIII. von England erteilen die Dokumente im Archiv Auskunft. Aus Wien sendeten die Habsburger anlässlich von Geburten oder Hochzeiten kostbare Pergament-Dokumente in den Vatikan um ihren Status zu demonstrieren. Übte jemand im Mittelalter Gewalt gegen einen Geistlichen, so musste er die Absolution vom Papst erwirken, von blutigen Nasen und Mordfällen am Klerus künden die Schriftstücke im Archiv. Im Zuge wissenschaftlicher Arbeiten trat ein Aufsehen erregender Fall von Machtmissbrauch im Kloster Sant'Ambrogio zutage, die Akten lassen nachvollziehen, wie die vatikanischen Gerichte im 19. Jahrhundert versucht haben, Gerechtigkeit herzustellen.

Ein viel zitiertes Archivstück ist ein Brief von Edith Stein. Sie wandte sich 1933 an den "Vater der Christenheit", um auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückte, wie sie schrieb. Edith Stein forderte die Kirche auf, angesichts der Vergötzung von Rasse und Staatsgewalt, nicht zu schweigen sondern den Nationalsozialismus als eine Häresie zu verurteilen. Die Archivstücke bringen in Kontakt mit den persönlichen Geschichten und mit den Dramen im Krieg. Vom Archiv herausgegeben wurden die Anfragen beim Papst von Verwandten von im zweiten Weltkrieg verschwundenen Personen. Durch das weltumspannende Kommunikationsnetz des Vatikans tauchten in vielen Fällen Informationen über den Verbleib der Verschwundenen auf.

Täglich arbeiten etwa sechzig Gelehrte aus aller Welt im Geheimarchiv, manche studieren mittelalterliche Dokumente, manche Quellen aus der Zeit der Renaissance. Vor kurzem wanderten tausend Akten über Seligsprechungsprozesse und 5.000 erledigte Ehe-Prozesse in die fast 100 Kilometer von Archivregalen. In seiner heutigen Form wurde das Vatikanische Geheimarchiv im Jahr 1612 begründet. Heute betreffen die meisten Anfragen das Pontifikat von Pius XII., Quellen, die im Moment durch den derzeitigen Papst noch nicht zugänglich gemacht worden sind. Das "Radiokolleg" hatte exklusiven Zugang ins vatikanische Geheimarchiv, auch in seine Keller und Tiefspeicher, wo die originalen, auf Pergament geschriebenen Korrespondenzen aller Päpste in faszinierend gutem Erhaltungszustand lagern.

Service

Christine Maria Grafinger: Der Transport der vatikanischen Handschriften nach Paris im Jahre 1797. Promemoria zur Auswahl der klassischen Handschriften (La Porte du Theil, Niebuhr, Münter); in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Hrsg. vom Deutschen Historischen Institut in Rom, Tübingen 1999
Christina Höfferer: Bella Arcadia. Das Italien der Literaten und Künstler, Styria Premium 2011
Ludwig Schmugge: Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin University Press 2008
Ludwig Schmugge: Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter, Artemis & Winkler 1995
Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte, C.H.Beck 2013
Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, C.H.Beck 2007
Hubert Wolf: Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das dritte Reich, C.H.Beck 2008


Archivum Secretum Vaticanum
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