Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker. "Sag die Wahrheit, nicht nur das, was real ist" - Zum 100. Geburtstag des Theatermenschen und Schriftstellers George Tabori. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Einige unserer ältesten Mythen, vom ersten Vatermord bis zum Abendmahl, haben den gedeckten Tisch zum Mittelpunkt", hat George Tabori einmal festgestellt. Durch seine Stücke ziehen sich geradezu leitmotivisch Situationen gemeinsamen Essens. In "Die Kannibalen" führt er auf schockierende Weise die Mahlgemeinschaft im Kannibalismus, wo sich die Esser die Kraft und den Geist des Toten einverleiben, und die christliche Eucharistie zusammen, in der Jesus sich seinen Jüngern in den Gestalten von Brot und Wein zur Speise gibt. Im Lager Auschwitz erschlagen zwölf Gefangene ihren Mithäftling, den fetten Gänseleberexporteur Puffi Pinkus, als sie ihn beim heimlichen Essen versteckten Brotes ertappen; sie wollen sein Fleisch kochen und essen. Da kommen zwei Wärter, durchschauen die Situation und zwingen die elf Häftlinge zum Essen; neun von ihnen sterben, weil sie keinen Bissen hinunterbringen, zwei essen und bleiben lebenslang davon gezeichnet. Die provokante Mischung des kannibalischen und des eucharistischen Rituals steht nicht nur als Bild für den christlichen Antisemitismus, sondern setzt den eucharistischen Leib Jesu und die im KZ getöteten Juden parallel.

George Tabori hat "Die Kannibalen" seinem Vater gewidmet - mit den lapidaren Worten: "Zum Gedenken an Cornelius Tábori / umgekommen in Auschwitz, / ein bescheidener Esser." Er nennt es "ein Stück, das weder Dokumentation noch Anklage ist, sondern eine Schwarze Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, um mich und diejenigen, die diesen Alptraum teilen, davon zu befreien".

Auch in sein Stück "Mutters Courage" bezieht Georges Tabori die christliche Messfeier ein: Ein Pfarrer gräbt einen erschlagenen und verscharrten Juden aus und reicht ihn seiner Gemeinde bei der Kommunion als echtes Fleisch und Blut Christi. Das Stück "Jubiläum", 1983 zum 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers geschrieben, spielt im Totenreich, wo die ermordeten Juden froh sind, ihr Leben hinter sich gebracht zu haben, bis ein Faschist die Wiederholung ihres Schicksals erzwingt. Am Schluss singen die zum zweiten Mal ermordeten Juden einen Song aus "Kiss me Kate", "während sie ein Brot brechen und unter das Publikum verteilen. Abendmahl, Geste der Versöhnung, Ende einer schwarzen Messe, die das Publikum verstört in die Nacht entlässt." Kannibalistischer Opferritus und eucharistischer Einspruch gegen die Opferung von Menschen durchziehen in schockierend sinnlicher Konkretheit Taboris Theater.

Service

George Tabori, Autodafé und Exodus. Erinnerungen, Verlag Klaus Wagenbach
George Tabori, Das Oper, Verlag Steidl
George Tabori, Gefährten zur linken Hand", Verlag Steidl
George Tabori, Ein guter Mord, Verlag Steidl
George Tabori, Tod in Post Aarif, Verlag Steidl
George Tabori, Theater. Band 1, Verlag Steidl
George Tabori, Mein Kampf. Textausgabe und Materialien, Verlag Klett-Cotta
George Tabori, Mutters Courage, Verlag Klaus Wagenbach
Stefan Scholz, Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. George Tabori - Ein Fremdprophet in postmoderner Zeit, Verlag W. Kohlhammer
Anat Feinberg, George Tabori, Deutscher Taschenbuch Verlag
Jan Strümpel, Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele, Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Zbigniew Preisner/geb.1955
Gesamttitel: TROIS COULEURS: BLEU / Original Filmmusik
Titel: Olivier's theme - Piano
Anderer Gesamttitel: DREI FARBEN: BLAU / Original Filmmusik
Solist/Solistin: Konrad Mastylo /Piano
Länge: 02:00 min
Label: Virgin 724383902729

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