Kunstradio - Radiokunst

clandestinamente von Gertrude Moser-Wagner

"clandestinamente"
Stollen, Kanal und das Meyerbeerblatt - Sprachschichten zu Norbert Cencig
mit Aufnahmen aus Florenz von Giacomo (Violine) und Andrea Granchi

Das Kunstradio basiert im Grunde auf mehrstündigen Gesprächsaufzeichnungen über ein Leben. Zuspielungen aus Florenz, von Giacomo (Violine) und Andrea Granchi, darüberhinaus aktuelle Nachrichten in Furlan (Region Friaul) und auf Slowenisch, als Radiostreams. Norbert (geb 1930) ist zugleich Zeitzeuge (meiner Vätergeneration) und Vorläufer einer heute wieder völlig alltäglich gewordenen Welt migrantischer Sprachenvielfalt. Erzählung entsteht beim Sprechen und Erinnern. Volumina brechen hervor. Jüngste Geschichte lagert sich darin ab, Verwerfungen werden sichtbar. Kräfte der Geodynamik, wie in einem Steinbruch der Zeit als Geschichte: Friaul/Kanaltal, Südkärnten, später Wien. An den Beweggründen von Norbert ist zu ermessen, was anarchische Neugierde hervorbringt. Später, als Professor für Italienisch, Englisch und Musik, gründete er Chor, Schulorchester und Theater, er brachte italienische Filme aufs Land - meinen ersten Pasolini.

Studiert hatte er im Wien der Nachkriegszeit, dort wirkte er vor allem als "Kulturarbeiter" (so würden wir heute sagen). Er hätte Künstler sein können, denke ich. Er wäre gern Italiener geblieben, sagt er heute. Nachvollziehbar. Sein Vater, ein Bergarbeiter im Bleistollen von Cave del Predil, ging "clandestinamente" (auf Schleichwegen), den Elfjährigen an der Hand, über die Grenze "heim ins Reich". Das hätte er nicht müssen. Mutter wollte es, behauptet Norbert. Muttersprache, Vatersprache, Gesellschaftssprache. Als der Vater, ein paar Jahre danach, als "Österreicher", der er nicht war, in Banja Luka fiel, verstummte Mutter zusehends. Der Bub ging in Klagenfurt zur Schule, die Nazizeit reflektierte er noch nicht. Schule motivierte ihn und evozierte den jeweils nächsten sozialen Raum: POW (prisoners of war), die Begegnung mit britischen Gefangenen vor Ort, zugleich die englische Sprache.

In den Schilderungen geht es vor allem um die Wahrnehmung von Orten, um Sprache als Material, Neugierde, gesellschaftssprachliche Adaption und auch um ein Notenblatt von Giacomo Meyerbeer. Sich ändernde Ideologien und ihre spätere Aufarbeitung. Metamorphose zum Weltbürger, im Steinbruch der jüngsten Geschichte. Dementsprechend wird das Audiostück auch eine Tektonik versuchen - Überlagerungen, Sedimentation, Fossilisation, Kristallisation: es soll akustisch ein Stück Marmor herauskommen. Im Grunde ist alles Geologie (Sabine Grupe).

Das Kunstradio "clandestinamente" ist Teil eines Projekts von Gertrude Moser-Wagner bei kunstwerk krastal, im Marmorsteinbruch nahe Villach (Kuratorin Meina Schellander). Die bei ihre Residency vor Ort im Juni 2014 entstehende Arbeit "Seitens des Steins" nimmt visuell darauf Bezug. Violine: Giacomo Granchi und Andrea Granchi, Florenz.

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