Radiokolleg - Einweisen statt einsperren?

Maßnahmenvollzug und forensische Psychiatrie (2).
Gestaltung: Christa Nebenführ

Am 29. Mai 1967 verkündete der damalige Justizminister Christian Broda die Abkehr vom Vergeltungsprinzip. Mit der großen Strafrechtsreform von 1975 wurde der Maßnahmenvollzug eingeführt, der geistig abnorme Rechtsbrecher/innen mit Hilfe psychotherapeutischer Maßnahmen bessern und die Gesellschaft vor Tatwiederholungen schützen sollte. Was bzw. wer aber ist geistig abnorm? Es ist die Aufgabe von sogenannten forensischen Psychiater/innen und Psycholog/innen, diese Frage zu beantworten und ein entsprechendes Gutachten zu erstellen, an dem sich der/die Richter/in orientieren kann. Darüber hinaus fällt es in den Zuständigkeitsbereich der forensischen Psychiatrie, entsprechende Therapiekonzepte zu erarbeiten und durchzuführen.

Kann eine gerichtlich angeordnete Psychotherapie in einer geschlossenen Anstalt erfolgreich sein? Führt die Praxis, Gutachter/innen einzubinden, bevor ein Urteil gesprochen wird, zur schleichenden Entmündigung der Richterschaft?
Seit 110 Jahren stützen sich Gerichte in bestimmten Fällen bei der Urteilsfindung auf die Aussagen psychologisch oder psychiatrisch ausgebildeter Fachleute, aber in den vergangenen Jahren haben einander widersprechende psychiatrische Fachgutachten in internationalen Gerichtsverfahren Aufsehen erreget. Mit der Abkehr vom Vergeltungsprinzip entscheidet zunehmend die Gefährlichkeitsprognose von Gerichtspsychiater/innen über die Anhaltungsdauer von Straftäter/innen. Und zwar unabhängig von der Schwere der Schuld und prinzipiell unbegrenzt, bis ein Gutachter dem Häftling bescheinigt, zukünftig keine Gefahr für die Sicherheit der Gesellschaft zu sein.

Nach welchen Kriterien werden solche Gutachten erstellt? In welcher Relation stehen Delikt und Krankheit? Ist es vielleicht so, dass kriminelle Handlungen pathologisiert werden? Christa Nebenführ hat recherchiert, wie es dazu kommen kann, dass jemand dreieinhalb Jahre für einen Mord und jemand anderer zehn Jahre für eine gefährliche Drohung angehalten wird und sie lotet anhand von Interviews mit Expert/innen Ziele und Grenzen der forensischen Psychiatrie aus.

Service

Frances, Allen: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Dumont, Köln, 2013.
Heimreich, Karl et. al.: Zum österreichischen Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 2 StGB; Forschung, Positionen und Dokumente; Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz Band 153. Herausgeber: Klopf, Johannes; Holzbauer, Albert. Neuer wissenschaftlicher Verlag, Wien, 2012
Illigen, Matthias: Ich oder Ich. Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat. Edition a, Wien, 2012.
Kornberger, Manfred & Wohlmann-Kreuch, Teresa: Wirksame Behandlungsformen für den Maßnahmenvollzug nach § 21.1 StGB - Versuch einer Integration der Forschungsergebnisse. In: Psychologie in Österreich, 2/2008.
Nedopil, Norbert; Gay, Barbara et.al.: Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht. Thieme, Stuttgart, 2007.
Plack, Arno: Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral. Paul List Verlag.
Platt, Ernst: Mea Culpa. Deutsche Literaturgesellschaft, Berlin, 2012.
Prechtl, Peter; Tim, Christian; Karl, Rudolf (Hg.): Blickpunkt: Magazin für Häfnkultur; Sonderausgabe Maßnahmenvollzug. Eigenverlag, Wien, 2013
Rueprecht, Katharina und Funk, Bernd Christian: Staatsgewalt. Die Schattenseiten des Rechtsstaates. Molden, Wien, 2012.

Christie, Nils: Restoring Societies. Norway after the atrocities
Gesetzestext Maßnahmenvollzug
Pressegespräch am 5.2.2013 "Sicherheit in Österreich: Kriminalitätsentwicklung und Maßnahmenpakete 2013"

Sendereihe