Die Langspielplatte als Gesamtkunstwerk

LongPlay

Lange Zeit galt in der Pop-Musik die Regel, dass nur Songs von drei, maximal vier Minuten erfolgreich sein können. Heute, im Zeitalter von iPhone, MP3 und Co, erfährt dieser Grundsatz erneute Geltung.

Und so wie in den 1960er Jahren ist es auch heutzutage unüblich, in kommerziellen Formatradios Pop- oder Rocksongs mit einer Dauer von über fünf Minuten zu spielen.

Ausnahmen wie Led Zeppelins "Stairway to Heaven" oder "Civil War" von Guns’n’Roses bestätigen die Regel; und nicht selten wird auch bei solchen populären Songs mit Überlänge nach etwa vier Minuten schon wieder ausgeblendet, ein Gitarrensolo unterschlagen oder eine Strophe gestrichen.

Der Song und die Single

Mag sein, dass die zwei bis fünf Minuten eine für das menschliche Hören ideale dramaturgische Zeiteinheit darstellen, die es erlaubt, in zwei, drei Strophen eine Geschichte zu erzählen ohne dabei - trotz der mehrmaligen Wiederholung - an Spannung zu verlieren. Mit der Entwicklung der Phonogrammtechnik hat sich dieses Prinzip jedenfalls verfestigt.

Die Schellack-Platte mit ihren 78 Umdrehungen pro Minute, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Wachszylinder als Trägermedium ablöste und mehrere Jahrzehnte lang Standard der Musikindustrie war, hat dazu beigetragen, dass die meisten Werke der Populärmusik bis heute durchwegs nicht länger als fünf Minuten dauern; und vermutlich wurde dadurch auch zudem das klassische Songformat, also der Aufbau aus den Bestandteilen Strophe, Bridge, Refrain und Solo weiter gestärkt und bestätigt: ein komplettes, in sich geschlossenes und eigenständiges Kunstwerk in gut verdaulicher Dosis, vertrieben im Doppelpack auf den zwei Seiten einer Single-Schallplatte.

Die LP und das Album

1948 stellte Columbia-Records die Vinyl-Langspielplatte vor. Plötzlich gab es auf einem Tonträger enorm viel Platz - ein Traum für Liebhaber von klassischer Musik! In der Populärmusik hingegen blieben - abgesehen von manchen Bereichen des Jazz - der einzelne Hit und damit auch die Single-Schallplatte, dieses handliche Format für Discjockeys in Discotheken und Radios, das Maß aller Dinge, seit 1949 in Form der 45er-Vinyl-Single mit 18 cm Durchmesser. Mittlerweile haben MP3-Player und iTunes die Musikhörenden zu ihren eigenen DJs gemacht - und wieder steht der einzelne Song (diesmal als Download) im Vordergrund des Interesses.

Dennoch: die Langspielplatte bot den Konsument/innen die Option, gleich zehn oder mehr Songs einer Band auf einem einzelnen Tonträger versammelt zu erwerben, und verdrängte damit immer mehr die Single aus den Haushalten. Der Begriff "Album" erinnert an die Tatsache, dass die LP primär als Möglichkeit zur Zusammenstellung mehrerer, unabhängiger Songs verstanden wurde, als Medium zum "akustischen Durchblättern" einzelner kleiner Werke - Songs eben.

Das Konzeptalbum

In den 1960er Jahren wurden die zwei Seiten der LP mit ihren jeweils mehr als 20 Minuten potentieller Spieldauer zu einem immer beliebteren Experimentierfeld für neue gestalterische Ideen, und sei es auch nur die nahe liegende Option, mehrere Songs in einen größeren, thematischen Zusammenhang zu stellen und unter einem dazupassenden Cover zu vereinen.

So versammelten etwa The Ventures 1961 auf der LP "The Colorful Ventures" zwölf Songs, in deren Titel jeweils eine Farbe vorkommt: von "Blue Moon" über "Greenfields" und "Yellow Bird" bis "Silver City". Damit war - wenngleich noch auf einer recht oberflächlichen Ebene - die Idee des Konzeptalbums geboren.

Sechs Jahre später schufen die Beatles mit "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" eine LP, die bis heute von vielen als das Konzeptalbum schlechthin betrachtet wird - ein Gesamtkunstwerk, bei dem Thema, Musik, Covergestaltung, aber auch die Rollen, in welche die Musiker schlüpfen, eine untrennbare künstlerische Einheit bilden; ein Werk, das zwar aus einzelnen Songs besteht, aber doch einen ganz bestimmten Aufbau hat, einer größeren Dramaturgie gehorcht und daher als Ganzes betrachtet werden muss.

Neue musikalische Wege

Einige Musiker erkannten in der Langspielplatte aber auch völlig neue Kompositionsmöglichkeiten und sie schufen bereits ab Mitte der 1960er Jahre Musikstücke, die den Rahmen des klassischen Songformats sprengten. Wurden die sechs Minuten von Bob Dylans Jahrhundertsong "Like a Rolling Stone" aus dem Jahr 1965 noch auf die zwei Seiten einer 45er-Single verteilt, so schrieben andere Künstler bald Werke, bei denen gar nicht mehr an Single-Auskoppelungen gedacht wurde - stets zum Misstrauen und Missfallen von Managern und Labelbetreibern, die auf Air-Play und Erfolg in den Charts bedacht waren.

1966 etwa veröffentlichte Frank Zappa mit seinem Debut-Album "Freak Out!" nicht nur eines der ersten Doppelalben der Musikgeschichte, sondern füllte auch gleich die vierte Plattenseite mit einem einzigen, experimentellen Stück von mehr als 12 Minuten Länge. Wagemutig waren auch Pink Floyd 1969 bei "Ummagumma", wo sich die vier Musiker die Laufzeit einer LP untereinander aufteilten und jeder für sich eine halbe Plattenseite im Alleingang gestaltete. Und radikal war der 20-jährige Mike Oldfield, als er 1972 auf "Tubular Bells" zwei Plattenseiten mit einem einzigen Instrumental-Stück füllte und musikalische Themen und rhythmisch-melodische Muster zu einem durchgängigen Klangteppich verwebte - einzig und allein unterbrochen durch das zur Halbzeit notwendige Umdrehen der Platte.

"LongPlay" in Ö1

Manchmal ist es die inhaltliche Tiefe, manchmal die originelle Form, manchmal eine besondere konzeptuelle Idee, manchmal der pure Zufall, manchmal die Komplexität der Musik, manchmal auch deren Schlichtheit - es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum ein Album zu etwas wirklich Außergewöhnlichem wird und deshalb auch verdient, in seiner Gesamtheit gewürdigt zu werden.

Genau das macht die Serie "LongPlay" die im Rahmen der Sendereihe Apropos Musik am Freitag um 15:05 immer wieder (wenn auch in unregelmäßigen Abständen) dazu einlädt, herausragende LPs in voller Länge und mit ausführlichen Hintergrundinformationen zu hören, seien es nun legendäre Meisterwerke, innovative Experimente oder richtungsweisende Meilensteine.

"LongPlay" versteht sich als Teil des Angebots von Ö1, Werken der so genannten Populärmusik die gleiche, tiefer gehende Beachtung zu schenken wie Werken der Klassik, und will dazu beitragen, die kaum zu rechtfertigende Unterscheidung von "E" und "U" weiter aufzulösen.

In "LongPlay" wollen wir uns den andernorts im Radio nicht mehr gebotenen Luxus gönnen, eine Langspielplatte so zu hören, wie es von den Künstlern beabsichtigt war - nämlich als Ganzes, von vorne bis hinten. Und nicht zuletzt will "LongPlay" dazu einladen, auch bekannte LPs, die sich möglicherweise schon seit langem im eigenen Plattenregal befinden, erneut aufzulegen, unter neuem oder erweitertem Blickwinkel zu betrachten und vielleicht auch im bereits Gehörten bislang Unerhörtes ausfindig zu machen.