Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche" und die diesjährige Preisträgerin des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik. Gestaltung: Alexandra Mantler

Franz Werfel

Für "Die vierzig Tage des Musa Dagh", seinen monumentalen Roman über den Völkermord am armenischen Volk vor 100 Jahren, hat Franz Werfel viel historisches Quellenmaterial gesichtet. Doch Werfel schreibt kein historisches Sachbuch, sondern einen Roman. Und der Literatur sind Dinge möglich, die ein Sachbuch so nicht leisten kann. Sie kann zum Beispiel Gleichzeitigkeiten erzählen.

Werfels Roman erzählt vom Jahr 1915, als osmanische Behörden beschlossen, das armenische Volk systematisch auszurotten durch Deportationen in die Wüste. Aber sein Roman erzählt auch - ohne dass das jemals explizit genannt wäre - von den Gefahren der Gegenwart in Deutschland. Und mit Gegenwart meine ich das Jahr, in dem dieser Roman erschien: 1933, das Jahr, in dem Hitler mit seiner NSDAP an die Macht kam.

Es ist schier unfassbar, wenn man Werfels Roman heute wieder liest, dass dieser Roman nicht nach 1945, nach der Shoah, geschrieben worden ist, sondern bereits bevor all die Verbrechen geschahen, die dann geschahen. Es ist deswegen so unfassbar, weil man darin alles schon zu lesen meint. Die Art und Weise der Hitlerschen Politik, die Konzentrationslager, die Planung der systematischen Vernichtung von Menschen und die Argumentationen dafür scheinen hier bis in Details auf eine unheimliche Weise vorweggenommen.

Seinen in Prag lebenden Eltern schrieb Werfel 1933, dass sein Werk durch die Ereignisse nun "symbolische Aktualität" bekommen habe: "Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus.", schreibt Werfel. Und weiter, trotz der Ahnungen hoffend: "Wahrscheinlich wird aber gar nicht soviel geschehen." - Werfels Roman wusste mehr als er selbst.

Den staatlich perfekt organisierten Massenmord erzählt Werfel in seinem Roman dabei nicht als Effekt, der aus einer unzivilisierten Barbarei entsteht. Für eine mögliche Erklärung des Phänomens lässt er einen alten Scheich sprechen: "Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurück lässt, wenn er daraus vertrieben wird."
Werfel erzählt den Völkermord als Resultat der Modernisierung der westlichen Welt und ihrer gefährlichen Frucht: des Nationalismus.

Service

Buch, Franz Werfel, "Die vierzig Tage des Musa Dagh", Fischer Verlag

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Komitas (Soghomon Soghomonian)/1869 - 1935
Vorlage: Traditional / Armenien
Bearbeiter/Bearbeiterin: Sergei Z. Aslamazian /Arrangement./1897 - 1978
Urheber/Urheberin: KOMITAS (Vardapet S. Soghomonian)/26.9.1869 Kutais (Kutahia) - 22.10.1935 Paris
Album: TÄNZE AUS DEM HERZEN EUROPAS / I Musici de Montreal
Titel: Nr.3 Shushiki : Moderato (00:03:11)
Gesamttitel: ZEHN ARMENISCHE VOLKLIEDER UND VOLKSTÄNZE - für Streichorchester
Ausführende: I Musici de Montreal
Leitung: Yuli Turovsky /Violoncello und Leitung
Ausführender/Ausführende: Jacques Proulx /Percussion
Länge: 02:00 min
Label: Chandos CHAN10094

weiteren Inhalt einblenden