Zwischenruf

von Pfarrer Michael Chalupka (Wien)

"Schuhe"

Schuhe. Schuhe sind das Wichtigste. Wer Glück hat, hat Sneakers. Doch man nimmt, was man bekommen kann. Hauptsache die Schuhe sind noch robust und sie tragen auf dem Weg der Hoffnung. Schuhe werden bewacht wie der eigene Augapfel. Mehr noch als die Kleidung, die man am Leibe trägt, wie das provisorische Zelt gegen die Hitze des Tages oder die Decke gegen die Kälte, die des Nachts vom Meer herüberweht.

Schuhe sind das wichtigste im Dschungel von Calais. Wer keine Schuhe hat, schafft es nicht über die stacheldrahtbewehrten Zäune, kann den LKWs, die nach Dover fahren, nicht nachlaufen. Hat keine Chance. Am besten ist es, die Schuhe als Kopfkissen zu benutzen. Immer die Kontrolle über sie zu bewahren.

3000 Menschen sollen es sein, die im Dschungel draußen vor der Stadt in provisorischen, zusammengeflickten Zelten und Hütten hausen. Die 18 Hektar große Fläche wurde ihnen von der Stadt zugewiesen, nachdem die Polizei von Calais damit gedroht hatte, die illegalen Notunterkünfte in ehemaligen Fabrikhallen näher beim Zentrum der Stadt mit Gewalt zu räumen. Der Dschungel ist der erste staatlich bewilligte Elendsslum für Menschen auf der Flucht in Europa. Am Rande des Camps führt die Stadt ein Zentrum, in dem es einmal am Tag Essen gibt und die einzige Möglichkeit sich zu waschen. Ein Dach über dem Kopf gibt es nur für alleinstehende Frauen und Kinder.

Doch Menschen haben das Bedürfnis nach Sicherheit, etwas Intimität und Würde. Sie sorgen so gut es geht für sich und die anderen. Neben den Zelten und Hütten, zusammengebastelt aus allem, was zu finden war in dieser Wüste draußen vor der Stadt, ist eine Bäckerei entstanden. Genauer eine afghanische Bäckerei. Naan-Fladen werden über der offenen Glut gebacken. Brot lässt die Heimat schmecken. Sechs hölzerne Pfosten, einige alte Decken und Kunststoff gegen den Regen bilden mittlerweile den Rahmen für ein kleines selbstorganisiertes Geschäft. Der nächste Supermarkt liegt ja mehr als eine Stunde Fußmarsch entfernt und die staatlich verordnete Ausspeisung, für die hunderte stundenlang Schlange stehen, gibt es nur einmal am Tag.

Einige hundert Meter entfernt hat die afghanische Community aus ähnlichen Materialien ihre Moschee gebaut und ein wenig weiter die Christinnen und Christen aus Äthiopien und Eritrea eine Kirche. Eine wackelige Kirche, 15 Meter hoch, mit einem Vorraum, einem Raum für den Gottesdienst und einem Raum für den Priester, wie es die alte orthodoxe Tradition erfordert, gebaut aus Plastikplanen und rohen Brettern und Holzplanken, am Boden alte Teppiche und Decken. An den Wänden Heiligenbilder, am Altar ein Leuchter. Hier versammeln sich jeden Samstag die Christinnen und Christen aus Eritrea und Äthiopien, aus einer der ältesten Kirchen der Christenheit.

Bevor sie den Raum betreten, in dem sie Gott begegnen, in dem sie beten und singen und ihre Klage und ihre Hoffnungen vor ihn bringen, ziehen sie ihre Schuhe aus. Das Heilige betritt man nicht mit Schuhen. Schon Mose hat auf der Flucht aus Ägypten, als er Gott begegnete im brennenden Dornbusch, die Schuhe ausgezogen. Das Heilige darf durch den Staub der Straße nicht beschmutzt werden. Die Schuhe bleiben vor der Tür. Wenn im provisorischen Raum des Heiligen die Flucht des Volkes Israel aus Ägypten oder der Flucht Jesus nach Ägypten erinnert wird, wenn an die heimischen Kirchen Äthiopiens gedacht wird, herausgehauen aus einem Fels, für die Ewigkeit erbaut, lange vor den Kathedralen Europas, da bleiben die Schuhe draußen vor dem Zelt. Genau wie vor der Moschee in der Nachbarschaft. Unbewacht.

Schuhe. Schuhe sind das Wichtigste. Wer Glück hat, hat Sneakers. Doch man nimmt, was man bekommt. Schuhe sichern das Überleben. Man muss auf sie aufpassen wie auf seinen Augapfel. Am besten man schläft auf ihnen. Einzig vor dem Heiligen werden sie ausgezogen. Denn auch unter widrigsten Umständen wollen die Bewohner des Dschungels von Calais ihre Würde bewahren. Wenn sie ihre Zukunft und Hoffnung, ihre Menschlichkeit und Verbundenheit mit Gott zum Ausdruck bringen, dann tun sie das barfuß. Noch nie ist ein Schuh weggekommen, vor der Kirche von Calais.

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