Zwischenruf

von Superintendent Hermann Miklas (Graz)

"Parallelwelten"

Im Geschichteunterricht haben wir seinerzeit gelernt, dass es in der neutralen Schweiz auch während des Zweiten Weltkrieges immer genug zu essen gegeben hat: Schokolade, Käse, Butter, Brot und Fleisch. Rundherum aber ist Europa im Elend versunken. Ich habe mich damals oft gefragt: Wie muss sich das wohl angefühlt haben, in Wohlstand zu leben, wenn nur wenige Kilometer weiter die Welt zusammenbricht? Heute weiß ich: Man kann sehr wohl in verschiedenen Sphären existieren: aufgewühlt sein von all dem Schrecklichen, was rundherum passiert und sich dann doch wieder dem normalen Tagewerk zuwenden, abends zur Entspannung gut essen gehen oder sich im Fernsehen einen Krimi anschauen. Ja, vielleicht muss man das sogar.

Als Jugendlicher habe ich mich auch oft gefragt: Wie muss das gewesen sein, als Menschen wie Schlachttiere in Viehwaggons nach Auschwitz, Dachau oder Mauthausen transportiert worden sind? Was mag sich die Zivilbevölkerung dabei gedacht heben, die das zum Teil ja mitbekommen hat? Heute weiß ich: Man kann sich an die Realität von 71 Erstickten in einem LKW oder an tausende Ertrunkene im Mittelmeer gewöhnen. Und ich gestehe: Auch ich kann nicht mehr 24 Stunden am Tag betroffen sein.

Ebenso habe ich mich früher oft gefragt: Wie war es möglich, dass die meisten Nachbarländer ihre Grenzen bald dicht gemacht und vor dem Naziterror flüchtende Juden kaum mehr aufgenommen haben? Hätten sie nicht die moralische Pflicht gehabt, allen zu helfen? Heute weiß ich: Wenn der Ansturm zu groß wird - und womöglich die Infrastruktur im eigenen Land auszuhebeln droht - wird eine Diskussion über Begrenzungsmaßahmen früher oder später unausweichlich.

In den letzten Tagen und Wochen haben wir in Österreich allerdings auch anderes erlebt. Wir haben erlebt, wie Flüchtlinge bei uns mit Applaus willkommen geheißen worden sind; dass eine beeindruckende Welle der Hilfsbereitschaft durch unser Land gegangen ist; dass ÖBB, Rotes Kreuz, Caritas, Diakonie, Volkshilfe und viele NGOs tolle Arbeit geleistet haben - und dabei von weiten Teilen der Bevölkerung aktiv unterstützt worden sind. Wir haben erlebt, wie aus namenlosen Schicksalen in der persönlichen Begegnung Menschen mit Gesichtern geworden sind.

Diese Tage haben gezeigt: Auch wenn eine Situation noch so dramatisch ist - es ist möglich, etwas zu tun - im Großen wie im Kleinen - und damit zumindest einen Funken Hoffnung in die Dunkelheit zu bringen. Es ist möglich, menschlich zu bleiben, ohne dabei die Augen davor zu verschließen, dass gewaltige Probleme nach wie vor ungelöst sind und die eigentliche Arbeit erst noch vor uns liegt.

Europa hat sich im Sommer 2015 nachhaltig verändert. Es wird auch nie mehr so werden wie es bisher war. Ob uns das gefällt oder nicht - das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Und die Illusion, inmitten eines brodelnden Kontinents durch Errichtung hoher Zäune eine Insel der Seligen bleiben zu können, wäre ein gefährlicher Trugschluss.

Was es jetzt braucht, ist nicht der nostalgische Blick zurück, sondern der entschlossene Blick nach vorn; viel Kreativität und einen kräftigen Schuss Gottvertrauen. Vertrauen auf Gott, von dem der Prophet Jesaja sagt: Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden! Haben wir es in den letzten Wochen nicht immer wieder erfahren?

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