Gedanken für den Tag

von Doris Schretzmayer, Schauspielerin. "Weckruf zum Lernen". Gestaltung: Alexandra Mantler

Manchmal passiert es mir leider, dass ich einem Menschen aufgrund eines flüchtigen Eindrucks einen schnellen Stempel aufdrücke. Im Bus war mir vor ein paar Monaten eine fahrige Frau in abgerissenen Jeans und Piercings aufgefallen, sie ging grob mit ihrem Kind um, riss es am Arm, herrschte es an und schien ziemlich schlechte Laune zu haben - etwas in mir war entsetzt: "Was für eine Rabenmutter. Furchtbar, wie lieblos!"

Als ich im Sommer die Frauen im Rahmen von "grow together" kennengelernt habe, habe ich mich für mein damaliges Urteil geschämt: Ich bin gefragt worden, ob ich mit meinen Erfahrungen als Schauspielerin an einem Projekt mit sozial stark benachteiligten Frauen mitwirken wolle. Frauen, die schon als Kind Gewalt erfahren haben, die von ihren Familien getrennt werden mussten und die jetzt selbst Mütter werden.

Der Verein "grow together" wurde von der Kinderärztin und Therapeutin Katharina Kruppa gegründet. Zusammen mit einem wundervollen Team unterstützt und begleitet sie Eltern mit Babys in schwierigen Lebenssituationen, sodass sie ihre Kinder behalten und bestmöglich fördern können. Der Verein will mit einem umfangreichen Programm den Familien einen Teil der Chancen geben, die ihnen das Leben bisher vorenthalten hat.

Ich habe bei den ersten Begegnungen mit den Frauen im Rahmen des wöchentlichen Gruppentreffens sehr schnell gespürt: Jede dieser Frauen ist groß- und einzigartig. Jede dieser Frauen hat Unglaubliches und Unerhörtes erlebt und ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn ich diese Erfahrungen hätte machen müssen.

Und ich glaube an Heilung, wenn der Rahmen dafür geschaffen wird - ein Umgang, der anders und sorgsamer ist und der ein neues leises Gefühl von Wert wachsen lässt. Ein Raum, in dem sie nicht aufgrund ihrer Lebensgeschichte bewertet werden und etwas Neues, Anderes aus ihnen erscheinen kann.

Wir haben nun begonnen, miteinander zu arbeiten - ich lese mit den Frauen Szenen aus Theaterstücken oder Filmen und wir fragen uns, warum welche Figur wie handelt, warum sie tut was sie tut, wir versetzen uns in die Rolle und probieren was aus. Wir spielen. Wir können unser eigenes Ich in den Hintergrund treten lassen und in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen - und schauen, wie sich das anfühlt. Man kann sich selbst erfahren, indem man jemand anderen spielt.

Service

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Nino Rota/1911 - 1979
Titel: Konzert für Streicher
* Scherzo. Allegretto comodo - 2.Satz (00:04:40)
Ausführende: I Solisti Italiani
Länge: 02:00 min
Label: Denon CO 78949

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