Gedanken für den Tag

von Felix Mitterer, Schriftsteller. "Ohren-Schmaus". Gestaltung: Alexandra Mantler

Der erste Preis für Hans-Martin Hiltner, der von sich schreibt:

"Ich wurde am 5. Mai 1960 als erstes von vier Kindern von Dr. Regina und Dr. Gerhard Hiltner in Leipzig in Deutschland geboren. Papa und Mama waren Ärzte. Bei mir kam es unter der Geburt zur Sauerstoffknappheit. Davor hatte sich meine Mutter als junge Ärztin zu Beginn der Schwangerschaft, von der sie noch nichts wusste, bei einer Sprechstunde mit Röteln angesteckt."

Einig waren wir uns, die Jury, deshalb, weil der Mensch so ein schweres Leben hat und trotzdem so viel Lebensfreude. Der Text lautet:

"Was mir durch den Kopf geht und ich mit Hilfe aufschreiben möchte.
Ich heiße Hans-Martin und bin ein fröhlicher Mensch. Ich lebe gern.
Ich bin fleißig. In meiner letzten Werkstatt habe ich oft TAUSEND Stück gemacht, egal ob es zusammengesteckte Kleiderbügel waren oder Wasserflaschenstöpsel. Jetzt macht meine Arbeit in der Behindertenwerkstatt ein anderer, bei dem es schneller geht.

Am wohlsten fühle ich mich, wenn meine Familie bei mir ist. Nachmittags durfte ich mit Papa nach seiner Arbeit zu den Patienten mitfahren. Meine Mama, auch eine Ärztin, ist so geduldig und hat mich sehr lieb. Sie redet mit mir, singt mit mir, zeigte mir, wie das Leben geht. Manchmal als junger Mensch war ich zornig, wenn ich etwas nicht verstand. Dann nahm sie mich in den Arm.

Zu den Feiertagen gehe ich mit meiner Schwester und meiner Nichte manchmal in die Kirche. Mir gefallen die feierlichen Menschen und die Lieder mit Orgel, ich kann alle Strophen. Und auch bei den Gebeten bin ich schneller als der Pfarrer, das ist mein kleiner Spaß. Ich bin immer der erste mit dem Amen. Dann schmunzeln die Leute.

Im August hatte ich eine Nierenkrebs-Operation. Ich lag neun Tage im Krankenhaus, zum Glück legte sich meine Mutti mit ins Spitalzimmer, dass ich nicht alleine war. Manchmal wusste der Arzt nicht gleich, wen er ansprechen soll, weil Mutti ja inzwischen blind ist und nicht sah, dass er ins Zimmer kam und ich war noch kaum wach. Ich war gar nicht der, der ich sonst bin und es war gar nicht wie immer. Ich zitterte und versuchte jede Minute aufzustehen und die Schläuche von mir zu reißen. Aber schon am 3. Tag zwinkerte ich den Schwestern zu.

Ich freue mich sehr auf das weitere Leben. Viele sagen, ich bin ein Schelm, weil ich manchmal Sachen an andere Plätze zurücklege als erwartet. Muttis Schlafanzug liegt manchmal unter meinem Polster. Sie sucht und sucht und regt sich auf. Und freut sich dann so, wenn ich ihn etwas später bringe. Dann lacht sie den ganzen Tag.

Ist das Leben nicht schön?"

Service

Literaturpreis Ohrenschmaus

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludwig van Beethoven/1770 - 1827
Titel: Zehn Variationen für Klavier, Violine und Violoncello in G-Dur über Wenzel Müllers Lied "Ich bin der Schneider Kakadu" op.121a
* Variation VII (00:53)
Solist/Solistin: Vladimir Ashkenazy /Klavier
Solist/Solistin: Itzhak Perlman /Violine
Solist/Solistin: Lynn Harrell /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: EMI 7474562

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