Zwischenruf

von Bischof Michael Bünker (Wien)

"In dem Bruder, der da weinet" - Wichern und der Adventkranz

Heute ist es wieder so weit: In vielen Wohnungen wird am Adventkranz die erste Kerze entzündet. Der Weihnachtscountdown beginnt.

Was wenige wissen: Der Adventkranz ist kein altes Brauchtum, sondern eine Hamburger Erfindung aus dem Jahr 1839. Johann Hinrich Wichern hat den ersten Adventkranz gestaltet und im "Rauhen Haus" ausgestellt. Das "Rauhe Haus" war ein alter Bauernhof, den der Senat der Stadt Hamburg dem jungen Wichern für ein Sozialprojekt zur Verfügung gestellt hatte.

Wichern - der selbst aus armen Verhältnissen stammte - hatte evangelische Theologie studiert und dann als Lehrer in den Elendsvierteln der reichen Hansestadt an der Elbe gearbeitet. Er sah sich mit der großen Not, die die rasante Industrialisierung gerade für die Kinder aus ärmeren Verhältnissen bedeutete, konfrontiert. Wichern entschloss sich, etwas dagegen zu unternehmen und gründete eine Einrichtung, in der Straßenkinder, Buben und Mädchen, aus den Hamburger Slums ein Zuhause fanden und eine Berufsausbildung bekamen.

Seine Einrichtung wuchs rasch und wurde weithin bekannt. Dennoch wusste er, dass es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein konnte. Die Verelendung war gerade in den Städten enorm und vor allem die Kinder und Jugendlichen davon massiv betroffen. In der ersten Zeit der Industrialisierung gab es keinen Schutz für die arbeitenden Menschen, sie wurden gnadenlos ausgebeutet. Wichern war einer von denen, die hier nicht zusehen konnten und sich für wirksame Sozialreformen einsetzten.

Für die katholische Kirche ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel Adolf Kolping zu nennen. Da ging es um Kranken- und Unfallversicherung, um die Begrenzung der Arbeitszeit, vor allem den arbeitsfreien Sonntag, um die Überwindung der Kinderarbeit, um die Organisation der Arbeiter und Arbeiterinnen in Genossenschaften, in Gewerkschaften bis hin zu politischen Parteien, lauter Anliegen, die heute als selbstverständlich gelten. Zu schnell wird vergessen, wie hart das erkämpft werden musste.

Die Erinnerung daran kann sensibel machen für die Bedrohungen, denen der Sozialstaat heute ausgesetzt ist. Die Kirchen selbst waren im 19. Jahrhundert weithin noch in einem vormodernen Verständnis der Gesellschaft verhaftet und entwickelten erst langsam das, was später Soziallehre oder Sozialethik genannt wurde. Heute - so das Ökumenische Sozialwort der Kirchen in Österreich - setzen sich die Kirchen gemeinsam für einen aktiven Sozialstaat ein, um sozialen Risiken wie Verarmung und Ausgrenzung entgegenzuwirken. Die Stellungnahmen der Kirchen zur aktuellen Diskussion um die Mindestsicherung sind auf diesem Hintergrund zu sehen.

Wichern nahm also ein großes Wagenrad und stellte darauf die Kerzen. Vier für die Sonntage des Advent und dazwischen je eine für jeden Wochentag, je nachdem, wie lange der Advent dauert. Heuer beginnt er am 27. November, auf dem Wichern-Adventkranz stehen also achtundzwanzig Kerzen. So wurde im "Rauen Haus" in Hamburg vor 180 Jahren Advent gefeiert. Neben den bekannten alten Adventliedern wurden auch neue gesungen, Wichern hat selbst einige Liedtexte verfasst. In einem seiner Lieder heißt es: "In dem Bruder, der da weinet, in der Schwester, die betrübt seh' ich dein Herz, das sich neiget, mich in deiner Liebe übt." Jesus wird in diesem Lied als der Heiland "im Armenkleid" besungen, der "arm und bloß" zu den Menschen kommt und alle, die ihre Hoffnung auf ihn setzen, dazu auffordert, sich gegen Armut und Elend einzusetzen.

Wenige Jahre danach, 1848, kommt es zu einer Kirchenversammlung in Wittenberg. Dort hielt Wichern aus dem Stegreif eine flammende Rede, in der er alle Vertreter der Kirchen an ihre soziale Verantwortung erinnerte und zum entschlossenen Handeln aufrief. Sein Aufruf wurde aufgenommen und umgesetzt. Das gilt als die Geburtsstunde der evangelischen Diakonie. Wenn Diakoniedirektor Michael Chalupka in diesen Tagen einen solchen "echten" Wichernadventkranz zu wichtigen Entscheidungsträgern und -trägerinnen in Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft bringt, dann erinnert er zugleich an unsere gemeinsame Verantwortung für die, die heute bei uns Hilfe und Unterstützung brauchen. So ist der Adventkranz zugleich ein Symbol für die soziale Verantwortung, zu der der christliche Glaube drängt.

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