Radiokolleg - Homo narrans
Wie das Erzählen unser Leben organisiert (1). Gestaltung: Johannes Gelich
8. Mai 2017, 09:05
Das Erzählen ist so alt wie der Homo sapiens, und doch stellt sich die Frage: Wann begann der Mensch mit dem Erzählen? Oder sollte man besser sagen: Woher kommt der menschliche Erzählinstinkt? In seinem gleichnamigen Sachbuch beschreibt der Biologe und Hirnforscher Werner Siefer, wie das Lausen der Affen von der Sprache und dem Erahnen der Absichten anderer abgelöst wurde.
Das Gedankenlesen und Phantasieren von Intentionalität waren im Keim schon Vorformen kleinster Erzählungen, die sich in tausenden von Jahren weiterentwickelten. Der soziale Aspekt des Erzählens ist seitdem nicht mehr aus dem menschlichen Leben wegzudenken, wie auch die ungebrochene Begeisterung für alte Erzählungen und Mythen aus aller Welt belegen.
Die österreichische literarische Avantgarde räumte nach 1945 mit dem Erzählen gründlich auf: Michael Scharangs Buch "Schluss mit dem Erzählen und andere Erzählungen" aus dem Jahr 1970 bringt eine Haltung auf den Punkt, die - ausgehend von der Wiener Gruppe - zum Angriff auf die Sprache als Mittel der Kommunikation ansetzte. Diese sprachkritische Haltung erkannte der Sprache, und mit ihr dem Erzählen, die Fähigkeit ab, die Wirklichkeit zu repräsentieren.
Man beschimpfte das Publikum (Peter Handke), Geschichten wurden "hinter Prosahügeln abgeschossen" (Thomas Bernhard), Dialog und Figurenidentität (Konrad Bayer) wurden abgeschafft. Doch auch die Avantgarden konnten dem offensichtlich urmenschlichen Drang nach Erzählungen nichts anhaben. Mittlerweile sind sich Expert/innen einig darüber, dass Narrative zur Konstituierung des eigenen Ichs für den Menschen geradezu lebensnotwendig sind.
Wir erzählen uns unser eigenes Leben, um uns in Zeit und Raum zu verorten. So verwundert es denn auch nicht, dass Mythen, Helden, Legenden und Sagen längst wieder Konjunktur haben. Der Mensch ist und bleibt ein Homo narrans.
Service
Werner Siefer: Der Erzählinstinkt, Hanser 2015
Patrick Addai, Jokin Michelena: Kalebasse voller Weisheit. Afrikanische Geschichten und Lebensweisheiten, Adinkra 2015
Michael Köhlmeier: Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, TB, Piper 2002
Gerhard Rühm: Gesammelte Werke, 3.2. Radiophone Poesie, Matthes & Seitz 2016
Peter Weibel (Herausgeber): Die Wiener Gruppe. The vienna group, Springer 1998
Karl Fallend: Unbewusste Zeitgeschichte. Psychoanalyse - Nationalsozialismus - Folgen, Löcker 2016
Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Ambra 2013
Christian Mikunda: Marketing spüren, Redline 2016
Christian Mikunda: Der verbotene Ort oder inszenierte Verführung, mi-Wirtschaftsbuch 2013
Karin Liebhart: In: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Suhrkamp, TB-Wissenschaft 1998
Petra Bernhardt: In: Europäische Bildpolitiken. Politische Bildanalyse an Beispielen der EU-Politik, UTB 2007
Jean Francois Lyotard (Autor), Peter Engelmann (Herausgeber), Otto Pfersmann (Übersetzer): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Passagen 1999
Von Mai bis Juni findet das internationale Storytelling-Festival mit Veranstaltungen in
Wien, Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark statt
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Gestaltung
- Johannes Gelich