Zwischenruf

Integration im Zeitraffer

Wie Integration funktionieren kann hat die pensionierte evangelische Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin Christine Hubka, die seinerzeit selbst mit ihren Eltern aus Osteuropa floh, in der Wiener Markuskirche erlebt. - Gestaltung: Martin Gross

Ich gehöre zu der großen Gruppe von Menschen, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Meine Eltern sind zum Ende des 2. Weltkriegs aus Osteuropa geflüchtet. In Wien haben sie sich dann kennengelernt. Ich wurde hier als Nachkriegskind geboren.

Wie Integration funktioniert - bzw. auch nicht passiert - habe ich in meiner Familie hautnah miterlebt. Mein Vater war berufstätig, sprach sechs Sprachen fließend. Er war in Wien zu Hause. Aber auch in Budapest, Bukarest, in Peking oder sonst wo auf der Welt, wo ihn sein Beruf hinführte. Er hatte einen großen und bunten Freundeskreis. Meine Mutter konnte sich an das neue Leben nicht gewöhnen. Mein Vater war ein Mann, der noch ganz im 19. Jahrhundert verwurzelt war. Er erlaubte ihr nicht, arbeiten zu gehen. Das Gesetz war auf seiner Seite. Also blieb meine Mutter daheim und lernte keine original Österreicher kennen. Ihr Freundeskreis bestand aus Leuten, die wie sie aus der sogenannten "alten Heimat" geflüchtet waren.

Weil ich Deutsch mit dem schwerfälligen Akzent dieser "alten Heimat" sprach, so wie ich es halt zu Hause täglich hörte, galt ich viele Jahre unter meinen Mitschülerinnen als Ausländerin. Dazu war ich dann auch noch evangelisch. Die einzige A-Katholikin in der Klasse, wie die Lehrerin immer wieder betonte.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Nun sind also wieder Menschen aus anderen Ländern in Wien gelandet. Sie sollen sich, wie meine Eltern damals, integrieren. Was immer das genau heißt.

Wie Integration aussehen kann, habe ich in den letzten Monaten in unserer Markuskirche sozusagen im Zeitraffer erlebt: Wenige Gehminuten von der Kirche sind in einem ehemaligen Altenheim Asylwerber untergebracht. Viele von ihnen stammen aus dem Iran. Etliche waren dort schon Mitglieder einer christlichen Freikirche.

Bald haben sie unsere Kirche entdeckt. Jeden Sonntag sind sie als Gruppe in den Gottesdienst gekommen. 10 oder zwanzig. Manchmal auch mehr. Zögernd betraten sie den Kirchenraum. Durch den langen Mittelgang in eine Bankreihe zu gehen haben sie sich nicht getraut. Als geschlossene Gruppe haben sie sich ganz hinten auf den Reservesesseln niedergelassen.
An einem Sonntag im vergangenen Sommer waren hinten in dieser Ecke mehr Leute als vorne in den Kirchenbänken. Wir haben jemanden gefunden, der den Ablauf des Gottesdienstes auf Farsi übersetzte. Wer wollte, durfte sich dieses Blatt auch mit nach Hause nehmen.

Nach ein paar Wochen, ich weiß nicht, wer oder was den Impuls gegeben hat, haben sich die ersten nicht mehr auf die Notsitze sondern in die letzte Bankreihe gesetzt. Den Gottesdienstablauf in der einen Hand, das Gesangbuch in der anderen. Es dauerte ein paar Wochen, dann saß die ganze Gruppe geschlossen in den beiden letzten Reihen.

Mehrere Monate nach dieser "Übersiedlung" in die Kirchenbank hatten einige Asylwerber und Asylwerberinnen den Taufkurs abgeschlossen. An einem Sonntag wurden sie im Gottesdienst getauft. Andere traten in die evangelische Kirche ein, da es ihre ursprüngliche Freikirche in Österreich nicht gibt. Die ganze Gemeinde feierte mit den neuen Mitgliedern im Nachkirchenkaffee. Seit damals suchten sich immer mehr weiter vorne einen Platz in einer Kirchenbank. Mitten unter den einheimischen Gemeindemitgliedern.

Inzwischen ist ein Jahr vergangen. Die Bewohner des Flüchtlingshauses sitzen nicht mehr in der geschlossenen Gruppe. Sie sitzen gemischt mit der Gemeinde und tratschen vor Beginn des Gottesdienstes mit dem österreichischen Nebenmenschen. Wenn die Gemeinde Abendmahl feiert, stehen auch unsere neuen Gemeindemitglieder mit im Kreis, empfangen das Brot, trinken aus dem einen Kelch.

Neuerdings sage ich zur Entlassung ganz besonders gern ein Wort aus dem Lukasevangelium: Es werden kommen von Osten und vom Westen, vom Norden und vom Süden die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.

Sendereihe

Gestaltung

  • Martin Gross