Gedanken für den Tag
Barbara Denschers armenische Impressionen
von Barbara Denscher, Kulturwissenschafterin und Publizistin. "Nur Tee gibt es nicht". Eine Sendung im Rahmen des Ö1-Schwerpunkts "Nebenan. Erkundungen in Europas Nachbarschaft". - Gestaltung: Alexandra Mantler
30. Mai 2017, 06:56
"Ankunft in Jerewan: Nur Tee gibt es nicht" - so habe ich ein Kapitel meines Buches über Armenien genannt. Es geht dabei um ein Treffen bei Bekannten. Ich solle doch kurz bei ihnen vorbeischauen, hieß es, "nur auf einen Tee". Doch der Termin entpuppte sich als opulentes Festmahl. Der Tisch bedeckt mit köstlich gefüllten Tellern und Schalen, Getränke im Übermaß, natürlich durfte auch der berühmte armenische Weinbrand nicht fehlen. Nur Tee gab es nicht: "Kann ich aber gleich machen, wenn jemand eine Tasse möchte", meinte die freundliche Gastgeberin.
Bei Essenseinladungen - noch dazu, wenn es sich um Besuch aus dem Ausland handelt - gilt in Armenien nämlich eine besondere Sprachregelung, die mir ein Freund dann so erklärte: "Einladung zum Tee bedeutet eigentlich großes Abendessen, und Abendessen bedeutet zumindest ein Grillfest." "Und wann gibt es nur Tee?", fragte ich. Darauf er: "Nur Tee? Nur Tee gibt es überhaupt nie!"
Die armenische Gastfreundschaft ist legendär, und dem gemeinsamen Essen kommt große Bedeutung zu. Es sind meist nahezu fundamentale Speisen: Nie fehlen dabei Obst und Gemüse, frische Kräuter und vor allem die Urform des Brotes, jene "Lawasch" genannten hauchdünnen Fladen.
"Wir achten das Brot, wir achten einander, wir achten uns selbst", schrieb der russische Autor Andrej Bitow in dem überaus lesenswerten Buch "Armenische Lektionen" über die in dem Land erhaltene "Kultur des Essens", und er präzisierte diesen Gedanken folgendermaßen: "Wenn mir die Aufgabe gestellt würde, in wenigen Worten zu definieren, was Kultur ist, nicht die Kultur, die aus Hochschulbildung und Dissertation besteht, denn auch ein gebildeter Mensch kann sich als Rüpel erweisen, sondern die Kultur, die auch einem Analphabeten eigen ist, würde ich sie definieren als die Fähigkeit, Achtung zu empfinden. Die Fähigkeit, den anderen zu achten, die Fähigkeit, zu achten, was du nicht kennst, die Fähigkeit, Brot, Erde, Natur, Geschichte und Kultur zu achten, folglich die Fähigkeit zur Selbstachtung, zur Würde."
Service
Barbara Denscher, "Im Schatten des Ararat. Reportage Armenien", Picus Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Urheber/Urheberin: Djivan Gasparyan & Ensemble
Titel: Armenian Romances: Housher
Ausführender/Ausführende: Djivan Gasparyan & Ensemble
Länge: 02:00 min
Label: Network Medien GmbH LC 6759