Gedanken für den Tag
Raphael Bonelli über die Selbsttranszendenz
"Mehr als Ich". Die Selbsttranszendenz relativiert mich selbst und macht den Menschen weniger narzisstisch, meint der Psychiater, Neurologe und Autor Raphael Bonelli. - Gestaltung: Alexandra Mantler
16. Juni 2017, 06:56
Selbsttranszendenz tut dem Menschen gut, braucht der Mensch auch, um über sich hinauszuwachsen und braucht der Mensch auch, nach Viktor Frankl, um sich selbst zu verwirklichen, weil er in sich alleine gefangen niemals zur vollen Entfaltung kommt.
Das wissen wir durch neueste Studien eigentlich erst im 21. Jahrhundert, aber wenn wir in der Geschichte der Psychoanalyse blättern, dann merken wir, dass schon frühe Mitstreiter von Sigmund Freud diesen Gedanken aufgegriffen hatten. Nehmen wir den jüdischen Psychiater Wilhelm Stekel, der schon 1924 schreibt: "Wir haben alle unsere heimliche Kapelle, in der wir unsere täglichen Gebete sprechen, wo wir keinen Fremden, auch wenn er uns noch so nahe steht, hineinschauen lassen. In dieser Kapelle thront unser Abgott, das majestätische Urbild, unser Ich, vor dem wir uns in demütiger Anbetung niederknien."
Das ist wirklich überraschend für einen Freud-Schüler. Aber auch Ernest Jones, der wichtigste Biograph Freuds und enger Freund von Freud, schlägt eigentlich in dieselbe Kerbe, indem er sogar einen Artikel über den "Gotteskomplex" schreibt: Der narzisstische Mensch, total überzeugt von sich selbst, der sich wie ein Gott gebärdet und sich selbst für Gott hält. Jones schreibt dann radikal sogar: "In der Regel sind diese Narzissten natürlicherweise Atheisten, denn sie können die Existenz irgendeines anderen Gottes nicht ertragen."
Die Königsdisziplin der Selbsttranszendenz ist die Religion, das Aufschauen zu einem Du, das In-die-Augen-blicken eines Geschöpfes einem Schöpfer gegenüber, das ist das, was den Menschen erschaudern lässt und was ihm die große Dimension seiner Existenz erschließt.
Service
Buch, Raphael Bonelli, "Männlicher Narzismus. Das Drama der Liebe, die um sich selbst kreist", Verlag Kösel
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Gabriel Faure/1845 - 1924
Titel: Pelleas et Melisande - Suite op.80 nach der Musik zu dem Drama von Maurice Maeterlinck
* Sicilienne - 3.Satz (00:03:37)
Orchester: Philharmonisches Orchester des Niederländischen Rundfunks
Leitung: Jean Fournet
Länge: 02:00 min
Label: Denon CO 73675