Gedanken für den Tag

Reinhard Deutsch über Leo Perutz

"Im Reich der unermesslichen Zahlen, Zeichen und wirkenden Kräfte" - Zum 60. Todestag des Dichters Leo Perutz macht sich der Verleger Reinhard Deutsch Gedanken über den Erzähler von Geschichten zwischen Wirklichkeit und Mystik. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Als der aus Prag stammende Leo Perutz, wie Kafka Versicherungsmathematiker, 1922 "Die Geburt des Antichrist" veröffentlichte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass er wenige Jahre später um sein Leben laufen und in Palästina ins Exil gehen würde müssen. Noch weniger, dass aus dem vielgelesenen und gutbezahlten Autor ein halb Vergessener werden könnte.

In der Novelle "Die Geburt des Antichrist", für einen wahnwitzigen Vorschuss 1921 im Wiener Rikola-Verlag erschienen, entsteht die besondere Geschichte zweier schlichter Menschen (der Vater ein entlaufener Galeerensträfling, die Mutter eine entlaufene Nonne), aus deren Liebe der Antichrist geboren wird - dadurch werden Wahrheiten sichtbar, werden Lebenslügen entlarvt, doch der Name des Kindes wird uns bis zur letzten Seite nicht genannt.

In scheinbarer, sanfter Harmonie endet das Buch mit der Prophezeiung, dass der Knabe dereinst im stillen und friedlichen Verlauf seines Lebens als Priester und Seelenhirt seine Gemeinde auf den Weg des Guten führen wird - . doch es wäre nicht Perutz, würde nicht das Mystische in die Idylle einbrechen wie der Wolf in die Hürde. Der Knabe ist nämlich Josef Cagliostro, der später zu einem großen Lügner und falschen Propheten wird, dem die Gläubigen zuströmen; Cagliostro, der dem Christentum und der katholischen Kirche gewaltigen Schaden zufügen wird. Eine Figur der Weltgeschichte und Weltliteratur, der Perutz mit dieser Herkunftserfindung eine völlig neue Wendung gibt.

Es ist eigentümlich, wie sehr der, wenn auch nur mäßig praktizierende Jude Perutz sich immer wieder mit den christlichen Lesarten von Schuld und Sühne, aber auch Gnade und Vergebung auseinandersetzte. Vielleicht ist diese Ambivalenz auch mit ein Grund, warum er in Palästina nie wirklich Fuß fassen, so gut wie nichts publizieren konnte. Verwünschungen, Prophezeiungen, Träume und Himmelserscheinungen, die magischen Fesseln des Menschen, wesentliche Elemente seiner Romane fanden im barocken Wiener Vorkriegsstadtbild der Engelsstürze und weihrauchduftenden Kirchen eben so recht ihren Schauplatz, ihr theatrum mundi.

Service

Leo Perutz, "Die Geburt des Antichrist", Verlag Rikola, antiquarisch erhältlich
Hans-Harald Müller, "Leo Perutz. Biographie", Verlag Paul Zsolnay

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johannes Brahms/1833 - 1897
Titel: Streichquintett Nr.2 in G-Dur op.111
* Adagio - 2.Satz (00:06:11)
Ausführende: Philharmonisches Oktett Berlin /Mitglieder
Ausführender/Ausführende: Alfred Malecek /Violine
Ausführender/Ausführende: Ferdinand Mezger /Violine
Ausführender/Ausführende: Kunio Tsuchiya /Viola
Ausführender/Ausführende: Dietrich Gerhardt /Viola
Ausführender/Ausführende: Peter Steiner /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: Philips 426094-2

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