Szene aus Frank Wedekinds "Lulu"

AFP/PATRICK HERTZOG

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Frank Wedekind

"Der Mensch wird abgerichtet, oder er wird hingerichtet" - Zum 100. Todestag von Frank Wedekind beleuchtet der Theologe, Literaturkritiker und Germanist Cornelius Hell die "umstrittenen" Themen in Wedekinds Werk. - Gestaltung: Alexandra Mantler

"Glauben Sie an Gott? Je nach Umständen." Diesen Dialog führt der Schüler Melchior am Ende von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" mit dem vermummten Herrn, einer Art Retter-Figur. Wie er um das Vertrauen des jungen Mannes wirbt, der sich wie sein Mitschüler Moritz das Leben nehmen will, hat Anklänge an biblische Berufungsgeschichten. Aber solche Assoziationen kühlt Wedekind mit diesem Dialog schnell wieder ab. "Wer Gott ist, wissen wir. Und weil wir's wissen, verschließen wir's in uns", hat Wedekind an anderer Stelle geschrieben.

Frank Wedekind selbst hat sich allerdings als Atheist verstanden, wie er in einem Brief an seinen Freund Adolph Vögtlin klar formuliert. Er begründet seinen Atheismus nicht, sondern schreibt nur, "dass erst treffende Gründe ihn mir aufgedrungen haben". Jedenfalls ist ihm sein Atheismus wichtig, um Gewissen und Gefühle nicht von einem göttlichen Ursprung, sondern "aus der Erziehung und dem Umgang mit Menschen" herzuleiten. Für Wedekind scheint Gott der beste Garant einer klaren Unterscheidung von Gut und Böse zu sein - und die lehnt er strikt ab. Im Brief an den Freund hält er geradezu eine Brandrede gegen diese Unterscheidung, die selbst voller religiöser Anspielungen steckt. Es lohnt sich, Frank Wedekind da recht genau zuzuhören:

Unwürdige Menschheit, wo bleibt Dein Verstand? Einen Blindgeborenen bemitleidest Du seines körperlichen Gebrechens wegen und den Geizhals verdammst Du wegen eines geistigen! Ist das Deine Barmherzigkeit, Deine Nächstenliebe - Jene Unglücklichen scheltet ihr Egoisten! - Seid Ihr besser als sie, Ihr Heiligen unter den Menschen? - Lasst Euch den Schafspelz ausklopfen, und überall kommen die gleichen, egoistischen Wölfe heraus!! Nun wage mir noch einer, einen Stein zu werfen auf seinen armen Bruder, der unvollkommener als er auf die Welt gekommen ist, ich will ihm heimzünden.

Service

Frank Wedekind, "Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie", Reclam Verlag 2013
Frank Wedekind, "Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora", Reclam Verlag 1999
Frank Wedekind, "Der Marquise von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen", Wallstein Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Frederic Chopin/1810 - 1849
Gesamttitel: Zwölf Etüden für Klavier op.25
Titel: Etüde op.25 Nr.5 in e-moll für Klavier - Vivace
Solist/Solistin: Maurizio Pollini /Klavier
Länge: 02:20 min
Label: DG 4137942

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