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Radiokolleg Spezial - "Anschluss" 1938
Stationen einer Machtübernahme. Mit Beiträgen von Günter Kaindlstorfer, Tanja Malle, Marlene Nowotny, Uli Jürgens und Wolfgang Ritschl
15. März 2018, 09:05
Station 4: Niemals vergessen. Das Postulat der Märztage 1938.
Rund 200.000 Österreicherinnen und Österreicher jubeln am 15. März 1938 Adolf Hitler bei dessen Rede am Wiener Heldenplatz zu, ein Ereignis, das Ernst Jandl und Thomas Bernhard Jahre später künstlerisch verarbeiteten und damit für viel politischen Aufruhr sorgten. Bis heute ist der Wiener Heldenplatz von hoher Symbolkraft. Im Jänner 1993 fand dort das Lichtermeer statt, eine Reaktion der Zivilgesellschaft auf die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Österreich, an der Veranstaltung nahmen rund 300.000 Menschen teil. Heuer soll in der Hofburg am Wiener Heldenplatz das "Haus der Geschichte" eröffnet werden, das eine Dauerausstellung zur wechselhaften österreichischen Zeitgeschichte beherbergen wird. Zu Gast im Studio bei Wolfgang Ritschl ist dazu die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Während am 15. März 1938 am Heldenplatz die Massen jubeln, kommt es bei jenen Menschengruppen, denen aus rassistischen bzw. politischen Gründen die Verfolgung droht, zu Panik und Verzweiflung. Vielen gelingt es nicht mehr, Österreich rechtzeitig zu verlassen. Günter Kaindlstorfer schildert, wie Privatpersonen beginnen, ihre Nachbarn, Verwandten und Kolleg/innen zu denunzieren, mitunter auch deshalb, um an deren Hab und Gut zu kommen und sich so selbst zu bereichern. Für die Gestapo ist es ein leichtes, Widerstandsgruppen zu unterwandern und zu zerschlagen. Denunziation steht auf der Tagesordnung.
Über das Verhalten der Österreicher/innen unter dem Hakenkreuz liegt seit kurzem eine umfassende Arbeit des Zeithistorikers Kurt Bauer vor, er hat Tagebücher, Autobiografien und Briefe aus jener Zeit ausgewertet, die von Begeisterung, Mitläufertum und Widerstand ebenso zeugen, wie von Gewalt und Mord. Auszüge daraus hören Sie im Beitrag von Marlene Nowotny.
Als ein Mittel der ideologischen Erziehung dient die Musik. Die Nationalsozialisten setzen gezielt traditionelles Volksliedgut ein, texten es aber in ihrem ideologischen Sinne um. Ein Ziel: Die Blas- und Unterhaltungsmusik sollte das Erleben eines Wir-Gefühls fördern, bis heute finden sich in der Volksmusik NS-Relikte, dokumentiert Uli Jürgens.
Am 27. April 1945 erklärt im bereits befreiten Wien die provisorische Staatsregierung unter dem Sozialdemokraten Karl Renner den "Anschluss" für "null und nichtig" und Österreich für unabhängig. Mit dem Staatsvertrag von Wien 1955 geht Österreich in Artikel 9 umfassende Verpflichtungen zur Entnazifizierung und Unterbindung von nationalsozialistischer Propaganda ein. Gesetzlich wird das sowohl im Strafrecht, als auch im Verwaltungsstrafrecht umgesetzt. Ob diese Gesetze heute ausreichen, um neue rechtsextreme Phänomene, in den Griff zu bekommen, hinterfragt Tanja Malle.
Moderation: Wolfgang Ritschl
Redaktion: Tanja Malle und Ina Zwerger
Service
LITERATUR:
Kurt Bauer: "Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 -1945", Fischer Verlag
Gerhard Botz: "Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung. 1938/39", Mandelbaum Verlag
Manfred Flügge: "Stadt ohne Seele. Wien 1938", Aufbau Verlag
Herbert Dohmen und Nina Scholz: "Denunziert", Czernin Verlag
Winfried Garscha, Heinz Arnberger, Christa Mittrrutzner: "Anschluss 1938. Eine Dokumentation", Österreichischer Bundesverlag 1988
Gerhard Jelinek: "Es gab nie einen schöneren März: 1938", Amalthea Verlag
Stefan Karner: "Die umkämpfte Republik", Studien Verlag
Walter Kohl: "Die dunklen Seiten des Planeten: Rudi Gelbard, der Kämpfer", Verlag Franz Steinmaßl
Claudia Kuretsidis-Haider "Österreichische Pensionen für jüdische Vertriebene. Die Rechtsanwaltskanzlei Ebner: Akteure Netzwerke Alte, DÖW
Mathias Lichtenwagner: "Belasteter Beton. Formen der Erinnerung an Orten der NS-Militärjustiz in Wien. In: Juliane Alton et al: "Verliehen für die Flucht vor den Fahnen" Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien, Wallstein Verlag
Maximilian Liebmann: ""Heil Hitler" - Pastoral bedingt", Böhlau Verlag
Ursula Mindler-Steiner "Die jüdische Bevölkerung besitzt wie bekannt großes Anpassungsvermögen...". Juden und Jüdinnen von Oberwart/Felsöör und ihre gesellschaftlich-kulturellen Verortungen. In: Martin Przybilski / Carsten Schapkow (Hgg.), Konversion in Räumen jüdischer Geschichte (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften Bd. 11). Wiesbaden 2014
Wolfgang Neugebauer, Thomas Mang, Elisabeth Boeckl-Klaper: "Gestapo Leitstelle Wien 1938 - 1945", Edition Steinbauer (erscheint im Mai 2018)
Hans Petschar: "Anschluss. Eine Bildchronologie", Brandstätter Verlag
Oliver Rathkolb: "Die paradoxe Republik: Österreich 1945 bis 2015", Zsolnay Verlag
Manfried Rauchensteiner: "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918", Böhlau Verlag
Horst Schreiber (Hg.): "1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols", Studien Verlag
Hans Schafranek: "Widerstand und Verrat", Czernin Verlag
Hans Schafranek und Herbert Blatnik: "Vom NS-Verbot zum Anschluss - Steierische Nationalsozialisten 1933-1938", Czernin Verlag
Holger Scheaeben: Am Nachmittag kommt der Führer. Schicksalsjahr 1938, Theiss Verlag
Emmerich Talos / Florian Wenninger: "Das austrofaschistische Österreich 1933 - 1938", LIT Verlag
Heidemarie Uhl: "Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. Transformationen des "österreichischen Gedächtnisses", in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen", Deutsches Historisches Museum Berlin (Ausstellungskatalog)
Peter Pirker: "Subversion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich", Vienna University Press
Harald Wendelin und Verena Pawlowsky: "Arisierte Wirtschaft", Mandelbaum Verlag
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