ORF/JOSEPH SCHIMMER
Radiokolleg - Allein in der Menge
Wenn Einsamkeit krank macht (3). Gestaltung: Madeleine Amberger
18. Juli 2018, 09:05
Großbritannien hat neuerdings eine eigene Ministerin für Einsamkeit. Diese Maßnahme ist eine Reaktion auf neueste Daten: Rund 15 Prozent der Briten geben an, sie fühlten sich häufig einsam. In Australien will die Regierung mit rund 30 Millionen Euro lokale Organisationen unterstützen, die beim Knüpfen zwischenmenschlicher Kontakte helfen. In Deutschland steht im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, man werde angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalisierten Gesellschaft "Strategien und Konzepte entwickeln, die der Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen".
Einsamkeit und die sozialen sowie gesundheitlichen Folgen gelten als demographische Zeitbombe. Denn: Immer mehr Menschen leben länger. Je älter der Mensch, desto eher fühlt er sich im Abseits. Einer der Gründe ist, dass Senioren im Laufe des langen Lebens Freunde und Familienmitglieder verloren haben. Das soziale Netz wird also immer schwächer. Ein weiterer Grund: die eingeschränkte Mobilität. In einen Klub oder zu einer Veranstaltung zu gehen, ist nicht mehr möglich. Gerade für Senioren können daher digitale Hilfsmittel wie Skype und soziale Medien eine Bereicherung darstellen.
Doch das ist nur eine Seite der technologischen Medaille: Viele jüngere Menschen sind zwar bestens vernetzt, doch beschreiben sich zunehmend als einsam. Soziale Medien befriedigen nur eingeschränkt, was der Mensch als soziales Wesen braucht: Gespräche, Zuwendung, Geborgenheit, Liebe. Eine britische Befragung kam zu dem überraschenden Schluss, dass 18- bis 35-Jährige häufiger an Einsamkeit leiden als die über 55-Jährigen.
Dieses Ergebnis, so die Forscher, sei auf alle westlichen Gesellschaften umzulegen, denn: Es gebe immer weniger Platz für gewachsene Gemeinschaften. Menschen ziehen für die Ausbildung weiter von daheim weg als früher; im Berufleben werden die Pendelzeiten immer länger. Die Arbeitszeit dehnt sich dank Technologie in die Freizeit aus. Kurz: Das moderne Leben macht es also schwieriger, bedeutsame Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.
Einsamkeit verursacht nicht nur emotionales Leid, sie kann krank machen. Laut einer US-amerikanischen Studie liegt das Demenz-Risiko bei alten Menschen umso höher je einsamer sie sich fühlen. Finnische und schwedische Wissenschafter analysierten Langzeitdaten von fast einer halben Million Menschen. Demnach leiden sozial Isolierte eher an chronischen Erkrankungen. Eine britische Studie bestätigte ein um 43 Prozent höheres Risiko einen ersten Herzinfarkt zu erleiden.
Daraus ergibt sich: Einsamkeit zu bekämpfen würde auch das Gesundheitssystem entlasten. Diesen Schluss lässt ein Pilotprojekt in einer englischen Kleinstadt zu: Seit Ärzte, Gemeinde und private Organisationen versuchen, vereinsamten Menschen mit ihren behördlichen sowie gesundheitlichen Problemen zu unterstützen und ihnen zu sozialen Kontakten zu verhelfen, gingen die Aufnahmen in den Notambulanzen zurück.
Service
Caroline Bohn, Institut Bohn
Maike Luhmann, Psychologin, Ruhr-Universität Bochum
Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age
Janosch Schobin, Soziologe, Universität Kassel
Armenbestattungen im modernen Sozialstaat
Christian Hakulinen, Psychologe, Universität Helsinki
Social isolation and loneliness as risk factors for myocardial infarction, stroke and mortality
Julianne Holt-Lunstad, Psychologin & Neurowissenschafterin, Brigham Young University, USA
Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review
The Potential Public Health Relevance of Social Isolation and Loneliness
Jenna Clark, Center for Advanced Hindsight, Duke University, USA
Social Network Sites and Well-Being: The Role of Social Connection
Sam Dick, Campaign to End Loneliness, London, GB
Mischa Bahringer, Volkshilfe Wien
Helen Kingston, Frome Medical Center, GB & Julie Carey-Downes, Frome
Julian Abel, Konsulent Palliativmedizin, GB
Ulrike Zartler, Soziologin am Institut für Soziologie, Universität Wien
Alleinerziehende in Österreich. Lebensbedingungen und Armutsrisiken
Gottfried Großbointner, Psychologe
Brian Beach, Sally-Marie Bamford: Isolation - The Emerging Crisis for Older Men