Zwischenruf
Christine Hubka über das Älterwerden
Über die Möglichkeiten, den Lebensabend zu verbringen, denkt Christine Hubka, evangelische Theologin und Gefängnisseelsorgerin, nach. - Gestaltung: Martin Gross
12. August 2018, 06:55
Vor kurzem traf ich mich mit ehemaligen Klassenkolleginnen zum 50-jährigen Maturatreffen. Als es immer später wurde, begannen einige, die da am Tisch saßen über die Mühen des Älterwerdens zu klagen. Da sagte meine Sitznachbarin: "Ich weiß nicht, was ihr habt. Meine beiden Schwestern würden mit Freude diese Mühen auf sich nehmen, wenn sie noch leben dürften." Beide waren in jungen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Nach kurzem betroffenen Schweigen ging die Runde zu einem anderen Thema über.
Älter werden ist eine Herausforderung. Ich habe also begonnen, mir zu überlegen, wie ich in meinen allerletzten Jahren, die mir geschenkt sind, leben möchte. Mein großes Vorbild in dieser Frage ist die Frau Johanna. An ihrem 80. Geburtstag ist sie in ein städtisches Seniorenheim gezogen. Dort hat sie noch einmal ein neues Leben begonnen. Sie hat neue Freundschaften geschlossen. Sie hat die Leute zu einer kleinen Gottesdienstgemeinde zusammengebracht und Bibelstunden gehalten. Im Alter von 99 Jahren hat sie die Sorge um diese kleine Gruppe an eine jüngere, an eine 85-Jährige, übergeben.
In ihren letzten Jahren lebte sie auf der Pflegestation. Dort bekam sie Besuch von denen, die noch selbstständig im Haus unterwegs sein konnten. Denen sie mit ihrer gewinnenden Art geholfen hat, hier heimisch zu werden. Schließlich starb sie mit 104 Jahren "alt und lebenssatt", wie es in der Bibel heißt.
Angeblich wollen ganz viele Menschen diesen Weg der Frau Johanna aber lieber nicht gehen. Angeblich wollen sie lieber daheim in den eigenen vier Wänden bleiben und hier von jemandem 24 Stunden, 7 Tage in der Woche betreut werden. Diese Betreuungskräfte kommen aus der Slowakei, aus Ungarn, aus Rumänien.
Betreuungskraft. Was für ein Wort. Frauen sind es, nicht geschlechtslose Kräfte ohne eigene Persönlichkeit. Elena ist eine von ihnen. Zu Hause hat sie eine Familie. Auf ihre Kinder schauen ihre auch schon betagten Eltern. Sie pendelt zwischen hier und dort. 24 Stunden Pflegerin zu sein bedeutet: Sie hat keine klar definierten Arbeitszeiten und kaum Kontakte hier in der Fremde. Nach einigen Wochen kehrt sie in ihr Land zurück, um nach einer Pause wieder für ein paar Wochen von ihren Kindern Abschied zu nehmen.
24 Stunden in einer Wohnung allein mit einem anderen Menschen. Niemand sieht, ob ihre Auftraggeberin sie gut behandelt oder schlecht mit ihr umgeht. Ob sie höflich mit ihr spricht oder in der Art, wie man früher mit Dienstboten kommuniziert hat. Niemand fragt danach, wie es ihr hier geht. Dazu kommt, dass Elena von der Vermittlungsagentur abhängig ist, die ihr den Arbeitsplatz besorgt hat.
Wer das System hinterfragt, wer Verbesserungen anstrebt, bekommt Probleme. Vor kurzem hat die Agentur Elena auf Schadenersatz geklagt, weil sie Missstände im System öffentlich angeprangert hat. 5.000.- Euro soll Elena laut Beschluss des rumänischen Gerichtes zahlen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Simona, Elenas Kollegin überlegt inzwischen, ob sie weiterhin als 24-Stunden-Betreuerin nach Wien kommen will. Seit das Kindergeld für ausländische Arbeitskräfte gekürzt werden soll, fühlt sie sich noch weniger wahrgenommen und wertgeschätzt als zuvor. "Irgendwann muss ich auch auf mich schauen", sagt sie.
Für mich stellt sich also die Frage: Kann ich es vor Gott, der mir ein langes Leben schenkt, verantworten, einem anderen Menschen so eine Arbeit, so ein Leben zuzumuten? Die Antwort fällt aus heutiger Sicht eindeutig aus: Ich kann es nicht und ich will es nicht. Dann gehe ich schon lieber den Weg, den die Frau Johanna gegangen ist. Oder ich finde einen Platz in einer Alters-WG der Diakonie. Dort arbeiten Menschen unter klaren Bedingungen für und mit denen, die eines Tages alt und lebenssatt in Frieden und gut betreut sterben werden.
Sendereihe
Gestaltung
- Martin Gross