AFP/JACK GUEZ
Gedanken für den Tag
David Weiss zum jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur
"In die Wüste geschickt". Der Schriftsteller David Weiss macht sich Gedanken über Sündenböcke und Neuanfänge. - Gestaltung: Alexandra Mantler
17. September 2018, 06:56
Die zehn Tage der Reue und der Umkehr verbinden das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana und den Versöhnungstag Jom Kippur. Die ersten Tage des neuen Jahres stehen im Zeichen von Buße und Vergebung.
Und noch ein weiteres Wort ist untrennbar mit Jom Kippur verbunden, der Sündenbock. Der Sündenbock ist wie kein zweiter Begriff aus der Bibelübersetzung Martin Luthers zu einem fixen bildhaften Bestandteil deutschsprachiger Kultur geworden. Vielleicht erinnert sich noch kaum jemand, woher er stammt, trotzdem weiß jede und jeder, was bzw. wer mit "Sündenbock" gemeint ist. Dem armen Tier wird stellvertretend alle Schuld und Übelkeit der Gemeinschaft auf die Hörner geladen. Danach wird es buchstäblich zum Teufel gejagt.
Das dritte Buch Moses erzählt, wie es dazu kam. Und dass es ursprünglich gar kein Sündenbock, sondern vielmehr ein Sühnebock war. Der feine Unterschied ist theologische Hufspalterei. Eindeutig ist, dass am Sühnetag zwei Paarhufer im Spiel waren. Und ein Stier. Welcher der beiden Ziegenböcke zum Sündenbock gemacht wurde, das entschied das Los. Nicht, weil der eine Geißbock eine fremde Fellfarbe gehabt hätte, mit Akzent gemeckert hätte, oder immer so komisch geschaut hätte. Nein, der bloße Zufall entschied, welcher Gottes und welcher des Teufels waren. Des Teufels zu sein bedeutete, ausgestoßen und in die Wildnis vertrieben zu werden. Der Verlierer fand sich nach jeder Menge Verwünschungen und einem Fußtritt in der Wüste wieder. Wo ihn mitsamt der mitgegebenen fremden Fehler, falschen Entscheidungen und jeder Menge schlichtem Pech endlich ein Dämon fressen sollte. Bis jener, dieser Wüstendämon Asasel, sich blicken ließ, irrte der Sündenbock durchs Chaos, wanderte durch die Fremde. Aber er war am Leben.
Der Gewinner dagegen wurde geopfert. Der Stier sowieso und von vornherein. Beide Opfertiere starben als Auserwählte für die Gemeinschaft. Der Sündenbock war auf der Flucht und starb in der Fremde. Alleine und verzweifelt. Oder aber frei, geweidet an grüner Aue, an frisches Wasser geführt und inmitten einer Herde aus Vertriebenen. Vielleicht dachte sogar das eine oder andere Schaf, wenn es geschoren wurde, oder die eine oder andere Ziege, wenn sie gemolken und von ihrem Kitz getrennt wurde, und so mancher Bock, bevor er zum Hammelbraten wurde, dass die Sündenböcke möglicherweise das glücklichere Los gezogen hatten.
Service
Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Urheber/Urheberin: Traditional
Urheber/Urheberin: jüdisch
Bearbeiter/Bearbeiterin: Henri Oppenheim /Arrangement
Album: KLEZMER - DIE INSTRUMENTALMUSIK DER OSTEUROPÄISCHEN ASCHKENASIM
Titel: Zol zayn gelebt
Ausführende: Kleztory
Ausführender/Ausführende: Airat Ichmouratov /Klarinette
Ausführender/Ausführende: Alain Legault /Gitarre
Ausführender/Ausführende: Elvira Misbakhova /Violine
Ausführender/Ausführende: Mark Peetsma /Kontrabaß
Ausführender/Ausführende: Henri Oppenheim /Akkordeon
Solist/Solistin: Bertil Schulrabe /Schlagzeug, Gastmusiker
Orchester: I Musici di Montreal
Leitung: Yuli Turovsky
Länge: 03:11 min
Label: Chandos CHAN 10181