Grimms Märchenbücher

DPA / SWEN PFÖRTNER

Gedanken für den Tag

Gudrun Sailer über Grimms Märchen

"Von Wäldern, Hexen und hundertjährigem Schlaf" - Weisheiten aus Grimms Märchen. Gudrun Sailer, Journalistin im Vatikan und Literaturwissenschafterin, macht sich Gedanken über Grimms Märchen und fragt am Beginn eines neuen Jahres, welche Fenster zur Welt sie öffnen. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Das Ende dieses Märchens kennen alle: Rumpelstilzchen zerreißt sich selbst. Aus Wut, weil die Königin ihm seinen Namen nennen kann. Eindringlich ist auch der Anfang der Geschichte. "Meine Tochter kann Stroh zu Gold spinnen", prahlt der Müller, nicht sehr gescheit. Der König greift sich die Müllerstochter, sperrt sie am Abend in eine Kammer voll Stroh und droht sie hinzurichten, sollte in der Früh nicht jeder Halm da drin aus Gold sein. Zu Hilfe kommt dem armen Ding in seiner Todesangst das schrumplige Manderl, das auf einmal dasteht und seine Dienste anbietet. Gegen Lohn. Sie verspricht ihm alles, was sie hat. Am Ende auch ihr erstes Kind. Das kann die Königin gewordene Müllerin dann auslösen, weil es ihr gelingt, den Namen des Männchens herauszufinden. Enttarnt, geht Rumpelstilzchen in die Luft.

Und dabei beherrscht der kreischende Wut-Zwerg eine ganz stille Kunst, die ein Leben verwandeln kann. Stroh zu Gold spinnen: Wer das schafft, geht leichter durch die Zeit.

Was ist dieses Stroh im Märchen? Für mich sind es die scheinbar wertlosen kleinen Dinge, die ich kaum noch sehe, weil ich sie jeden Tag um mich habe. Stroh steht für Alltag. Aber ist nicht der Alltag das, was mein Leben grundiert? Mein Zuhause, mein Ausblick aus dem Fenster, mein Weg zur Arbeit, der Geruch nach Winternebel in der Früh, meine kleinen Rituale, mein täglich Brot. Es kommt darauf an, wie ich dieses Stroh des Alltags sehe, achte, erinnere - wie ich es spinne. Am besten mit wacher Dankbarkeit. Ganz ohne unheimliche Helfer kann ich mir angewöhnen, aus dem Stroh meines Alltags einen Goldfaden zu spinnen, etwas Zusammenhängendes, Wahrnehmbares, das ich nicht wegfege wie der Müller sein Stroh, sondern das morgen noch da ist und den Tag durchglänzt.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Vorlage: Gebrüder Grimm
Komponist/Komponistin: Herbert Baumann
Gesamttitel: RUMPELSTILZCHEN / Märchen Ballett für Kinder frei nach den Gebrüdern Grimm, in 2 Teilen / Gesamtaufnahme
Titel: 21. VII. ZWISCHENAKT: Poco allegro (00:01:11) - tw. 2x gespielt
Orchester: Radio Philharmonie Hannover des NDR
Leitung: Herbert Baumann
Länge: 01:11 min
Label: Thorofon CTH 2405

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