Gudrun Sailer über Grimms Märchen

12. Jänner 2019, 06:56

Schneeweißchen und Rosenrot, das sind die Schwestern, die dem undankbaren Giftzwerg dreimal das Leben retten. Jedes Mal müssen sie ihm dabei seinen langen Bart ein Stück kürzen, weil der irgendwo feststeckt. Und der Zwerg? Der zetert. Statt den Mädchen "danke" zu sagen, immerhin entreißen sie ihn in letzter Sekunde einem Adler, der ihn sich gerade krallt, beschimpft er seine Retterinnen als dumm und unnütz.

Der spinnerte Zwerg ist zum Lachen, aber er bringt mich nicht zum Lachen, das fällt mir jedes Mal beim Vorlesen auf. Er ist komisch im Sinn von verdreht, böse und ohne jedes innere Maß. Da heult er über die abgeschnittenen Barthaare und überreißt nicht, dass er gerade um Haaresbreite überlebt hat, und dass er das jemandem verdankt. Er schleppt Säcke mit Perlen und Edelsteinen, die niemand sehen darf. Toter Reichtum. Aber ein Sinn für das Leben, auch fürs eigene, der fehlt ihm. Er liebt das Schöne, aber es darf nur ihm gehören. Eifersüchtig hütet er seine Schätze. Vielleicht ist der Zwerg deshalb ein Zwerg. Klein, weil er in sich selbst gefangen ist, nichts mit anderen zu tun haben will. Einer, der nicht mehr wachsen kann, weil er nichts je verschenkt.

Ich will heute kein solcher Kleingeist sein. Lieber will ich mich bemühen, zu teilen, was ich Schönes habe: eine witzige Bemerkung, ein wenig Zeit, Wohlwollen. Danke sagen zu jemandem, der einfach seinen Dienst tut und ihn gern tut. Danke dem Busfahrer, der Ärztin, der Lehrerin, dem freundlichen Portier. Schneeweißchen und Rosenrot haben zum Dank für ihre beherzte Güte am Ende je einen Prinzen abbekommen. Vielleicht brauchen Sie ja keinen solchen, aber, Sie wissen schon: Wer teilt, hat nicht weniger, sondern mehr vom Leben.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler