Medizin und Gesundheit

Den Mut haben nichts zu tun?!

Fünf Minuten. So lange dauert ein durchschnittliches Arzt-Patienten-Gespräch in Österreich. Damit liegen wir hinter Ländern wie Äthiopien oder Uganda. Wenig Zeit also für eine individuelle und umfangreiche Zuwendung. Ganz nach dem Motto "Hilft's nix, schadet's nix", wird daher im medizinischen Alltag oft auf Altbewährtes zurückgegriffen. Man verschreibt die ein oder andere Extra-Untersuchung oder ein Medikament.

Laut dem British Medical Journal sind Ärztefehler die dritthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten. Sie liegen damit vor letalen Krebs- oder Herzerkrankungen. Und auch in Deutschland sterben jährlich ca. 58.000 Menschen an den Folgen unerwünschter Medikamentenwirkungen, in jedem zweiten Fall wurde sogar das falsche Medikament verschrieben. Aus Österreich gibt es leider keine entsprechenden Untersuchungen. Man kann aber davon ausgehen, dass wir in dieser Hinsicht keine "Insel der Seligen" sind.

"Gemeinsam gut entscheiden"

Wie kann man nun unnötige oder gar schädliche medizinische Versorgung vermeiden? Mit dieser Frage beschäftigt sich "Gemeinsam gut entscheiden", ein Kooperationsprojekt der MedUni Graz und der Donau Universität Krems. Ihr Ziel ist es, Bewusstsein zu schaffen, damit unnötige Behandlungen reduziert und unterversorgte Bereiche, wie etwa das Patientengespräch, gestärkt werden.

Ursachen für Überdiagnostik und Übertherapie

Eine Umfrage des deutschen Ärzteblatts, an der rund 5000 Mediziner teilnahmen, ergab, dass sich der überwiegende Teil der Befragten der Folgen einer Überversorgung bewusst ist. Nämlich Steigerung der Gesundheitsausgaben, Verunsicherung des Patienten und potenzielle Gesundheitsschäden. Die Sorge vor Behandlungsfehlern und der Druck der Patienten zählen zu den beiden häufigsten Gründen zur Veranlassung von überflüssigen Leistungen.

5 Empfehlungen

Die Österreichischen Gesellschaften für Geriatrie bzw. Allgemein- und Familienmedizin sind die beiden ersten Fachgesellschaften, die mit der Initiative "Gemeinsam gut entscheiden" zusammenarbeiten. Mittlerweile gibt es für diese Fachrichtungen sogenannte Top-5 Listen, die die fünf wichtigsten Empfehlungen für Ärzte und Patienten zusammenfassen.

Empfehlungen für die Geriatrie:

1.) Harnkatheter sollen nicht ohne angemessenen Grund gesetzt werden.
2.) Trotz Bakterien im Harn sollte Patienten ohne Beschwerden kein Antibiotikum verschrieben werden.
3.) Antipsychotika sind nicht die erste Wahl, um herausforderndes Verhalten bei Demenz-Patienten zu behandeln.
4.) Künstliche Ernährung sollte bei Personen mit fortgeschrittener Demenz vermieden werden.
5.) Früherkennungsuntersuchungen bei älteren Personen mit begrenzter Lebenserwartung sollten abgewogen werden.

Empfehlungen für die Allgemeinmedizin:

1.) Antibiotika sind bei viralen Infektionen wirkungslos.
2.) Erst nach 6 Wochen andauernden Rückenschmerzen und bei Verdacht auf schwerwiegende Ursachen sollte eine bildgebende Untersuchung durchgeführt werden.
3.) Kinder mit leichter Mittelohrentzündung sollten nicht zwangsläufig mit Antibiotika behandelt werden.
4.) Bakterien im Harn sind nicht grundsätzlich mit Antibiotika zu behandeln.
5.) Männer sollten vor einer Früherkennungsuntersuchung der Prostata über ihr individuelles Risiko und über möglichen Schaden durch die Untersuchung informiert werden.
In Zukunft könnten Einsparungen von unnötigen Leistungen in Bereiche wie etwa die Patientenaufklärung oder -edukation oder Schulungen für Diabetiker fließen.

Was kann ich als Patient beitragen?

Mut aufbringen, Fragen einzufordern, wie: Was fehlt mir? Was kann ich tun? Welche Vorteile haben eine Untersuchung oder eine Therapie für mich? Was passiert, wenn ich nichts tue? Denn nur wer sich informiert und eventuell eine zweite oder dritte fachliche Meinung einholt, kann schließlich selbstverantwortlich über seine Gesundheit entscheiden. Dazu dienen eben auch die Broschüren von "Gemeinsam gut entscheiden", sie bereiten wissenschaftlich-evidenzbasierte Inhalte leicht verständlich auf. In Zukunft soll das Angebot von "Gemeinsam gut entscheiden" auch weitere medizinische Fachbereiche umfassen, um schließlich die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu stärken.

Moderation: Univ.-Prof. Dr. Manfred Götz
Sendungsvorbereitung: Johanna Hirzberger, MA und Dr. Christoph Leprich

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.


Haben Sie oder ein Angehöriger Zweifel an einer medizinischen Behandlung?

Haben Sie mir Ihrem behandelnden Arzt über Ihre Bedenken gesprochen?

Haben Sie sich eine Zweit- oder Drittmeinung eingeholt?

Wurden Sie oder ein Angehöriger unnötig oder falsch behandelt?

Wie haben Sie dies bemerkt und welche Maßnahmen haben Sie getroffen?

Service

Sendungsgäste im Funkhaus Wien:

Univ.-Prof.in Dr.in Andrea Siebenhofer-Kroitzsch
Fachärztin für Innere Medizin
Leiterin der der Research Unit "EBM Review Center" der Medizinischen Universität Graz
Professorin für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung
Professorin für chronische Krankheit und Versorgungsforschung an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.
E-Mail
Telefon: 0043-316 -85-73558

Prim. Doz. Dr. Joakim Huber
Facharzt für Innere Medizin
stellvertretender Ärztlicher Direktor
Vorstand der Internen Abteilung mit Akutgeriatrie und Palliativmedizin, Franziskus Spital
Landstraßer Hauptstraße 4a
1030 Wien
E-Mail
Telefon: +43-1-711 26 -0

Dr. Otto Pichlhöfer
Arzt für Allgemeinmedizin
Lektor an der Abteilung f. Allgemeinmedizin der MedUni Wien
Forschungsschwerpunkte: Health Services Research
E-Mail
Telefon +43-1-292895-0

Weitere Anlaufstellen und Info-Links:

Gemeinsam gut entscheiden
Choosing Wisely Studienergebnisse
Top-5 Liste Allgemeinmedizin
Top-5 Liste Geriatrie
Gesprächsführung: Arzt Patient
Analyse Ärzte-Patienten-Gespräch weltweit
Studie Niederösterreich - unnötige Therapien und Behandlungen
Mitgliederbefragung zu "Klug entscheiden": Wie Internisten Über- und Unterversorgung werten

Buch-Tipps:

Inga Münch, "Erhöhung der Gesundheitskompetenz von Menschen auf der Basis evidenzbasierter Gesundheitsinformationen", GRIN Verlag 2014

Sibylle Bucher und Regina Degen, "Förderung der Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen: Eine systematische Literaturrecherche", AV Akademikerverlag 2012

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