nachdenklich schauende Christine Lavant

ERNST PETER PROKOP

Ö1 Hörspiel

Christine Lavant über ihre Psychiatrie-Erfahrungen

"Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus". Von Christine Lavant. Mit Gerti Drassl. Musik: Franz Hautzinger, Matthias Loibner, Peter Rosmanith. Ton: Jupp Prenn. Bearbeitung und Regie: Peter Rosmanith (Autorenproduktion 2019)

Sechs Wochen verbrachte Christine Lavant als Zwanzigjährige in der "Landeskrankenanstalt Klagenfurt", nachdem sie einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen hatte. Elf Jahre später, im Herbst 1946, schrieb sie über ihre Erlebnisse mit Patientinnen, Pflegerinnen und Ärzten in der Institution Psychiatrie. Vor allem aber über ihre Selbstwahrnehmungen, die Zustände des eigenen Bewusstseins und Unterbewusstseins in dieser existenziellen Situation.

Sie verdichtet ihre Erlebnisse und Empfindungen "zu einem grotesk-realistischen Spielbild, in dem die Verhaltensweisen, die Hierarchien, die Machtstrukturen und Unterdrückungsmuster einer rigiden Klassengesellschaft sichtbar werden, die sich ,draußen' und ,drinnen' nach den gleichen Vorstellungen und Prinzipien organisiert. Die fiktive Tagebuchschreiberin hält die Einzelheiten des Kampfes um die vorteilhaftesten Positionen auf allen Ebenen mit schmerzhafter, sich selbst nicht schonenden Genauigkeit und einer unerbittlichen, vor innerer Rebellion bebenden Härte fest, deren Gradmesser Gerechtigkeitsempfinden und Mitgefühl sind" (Klaus Amann).

Die Ich-Erzählerin vermag es allerdings, sich im System "Irrenhaus" geschickt zu behaupten, sie wird als geheilt entlassen, könnte sich aber vorstellen zu bleiben, verrückt zu werden und es - durch Heirat - zu einer "Frau Primarius" zu bringen. "Lavants Selbstironie und ihr Humor sind nicht zu unterschätzen" (Klaus Amann).

Dieses Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künstezum Hörspiel des Monats Oktober 2019 gekürt.

Die Begründung der Jury lautet:
Peter Rosmaniths Hörspielfassung von Christine Lavants "Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus" (ORF 2019) besitzt die Intensität eines Kammerspiels in besonderem Maße: Es inszeniert die subjektiv verstörende Perspektive einer suizidgefährdeten Zwanzigjährigen auf den stationären Aufenthalt in der "Landesirrenanstalt Klagenfurt" Mitte der 1930er Jahre. Zugleich dokumentiert bereits der poetisch-metaphorische Ausgangstext von Lavant die bedrückende Atmosphäre in einer der Psychiatrien, die später institutionell an der Vorbereitung der Euthanasie-Gräuel beteiligt waren.
Konzentriert auf die Sicht der Insassin einer Kranken- und Heilanstalt erzählt dieses Hörspiel auch von deren manischer Verliebtheit, die durch das Abhängigkeitsverhältnis vom ärztlichen Therapeuten einen Missbrauch forciert. Diese komplexe Geschichte wird stimmlich geradezu hypnotisierend umgesetzt von der mehrfach ausgezeichneten Südtiroler Schauspielerin Gerti Drassl. Die nüchterne, hierarchisch organisierte Zwangsexistenz, explizit die Unterdrückungsmechanismen in einer psychiatrischen Verwahranstalt, werden durch die Kraft der Poesie im Kontrast zur scharfen Situationsanalyse artikuliert. Hin- und hergerissen zwischen Lavants Gefahr der Selbstauflösung und ihrem Versuch, sich aus dem Tunnel des inneren Schreckens zu befreien, hinterlässt das Hörspiel ein geradezu erschütterndes Stimmungsbild. Verstärkt wird dieses zum empathischen Hören einladende Setting durch die gegenseitige Durchdringung der Text- und Musik-Bereiche (Instant Composings / "Improvisationen aus dem Augenblick heraus"). Dadurch wird die Atmosphäre der Bedrohung, Demütigung und existentiellen Verunsicherung der Protagonistin beispielhaft inszeniert. Text und Musik (von Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter Rosmanith) begegnen sich auf dieser Ebene völlig gleichberechtigt.

Service

Am Sonntag, den 6. Oktober, findet um 11.00 Uhr im RadioKulturhaus die Verleihung des Christine-Lavant-Preises 2019 statt, ORF III überträgt direkt.

Christine-Lavant-Preis-2019

Seit 2014 erscheint eine von Klaus Amann herausgegebene Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.

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