Zwischenruf

Maria Katharina Moser über würdevolle Pflege

Warum sich Investitionen in die Pflege lohnen, erklärt Maria Katharina Moser, evangelische Theologin und Direktorin der Diakonie Österreich. - Gestaltung: Martin Gross

"Ich will niemandem zur Last fallen." Wie oft ich diesen Satz höre. Meist aus dem Munde älterer Menschen. Und meist, wenn es um das Thema Pflege geht. "Meine Kinder sollen ihr Leben leben und sich nicht um mich kümmern müssen", höre ich immer wieder. Bloß nicht abhängig sein.

Diese Angst vor der Abhängigkeit ist mehr als Angst vor altersbedingten Leiden und Beschwerden. Sie hat zu tun mit dem Wertekompass unserer Gesellschaft. Der weißt in Richtung Selbstbestimmung: Entscheidungen selbst treffen, das eigene Leben leben - so, wie man es selber leben möchte, wie man es selbst für gut und richtig hält. Autonomie ist ein zentraler Wert in modernen demokratischen Gesellschaften.

Das Problem ist: Selbstbestimmung wird gleichgesetzt mit Unabhängigkeit. Dass Menschen soziale Wesen sind, die anderer Menschen bedürfen, wird übersehen. Unabhängigkeit ist ein absolutes Ideal, wird zur Norm erhoben - angewiesen sein und Abhängigkeit werden im Gegenzug zu einem außerordentlichen, bedauernswerten Zustand, mit Ängsten verbunden, negativ besetzt. Wer auf andere angewiesen und abhängig ist, ist mit einem Makel behaftet.
Dieses negative Verständnis von Abhängigkeit hat handfeste Folgen wie eben die Angst vor Angewiesensein auf Unterstützung und Pflege und damit einhergehend den Wunsch, lieber bei Zeiten zu sterben als pflegebedürftig zu sein.

Die Art und Weise, wie über eine dringend nötige Pflege-Reform diskutiert wird, ist da alles andere als hilfreich. Im Zentrum aktueller Debatten steht die Frage: Was wird das kosten? Und: Wer soll das bezahlen? Menschen mit Pflegebedarf werden zum Kostenfaktor. Das ist unwürdig. Und das ist falsch.

Denn Pflege hat einen sozialen und einen ökonomischen Mehrwert. 70% der Ausgaben für die Pflege fließen via Steuern und Sozialversicherung wieder an die öffentliche Hand zurück. Und Pflege bietet krisensichere Jobs. In der Wirtschaftskrise ist die Beschäftigung zum Beispiel in der Autoindustrie und im Baugewerbe gesunken - anders im sozialen Sektor, da ist die Beschäftigung gestiegen, EU-weit um 16%.

Ich denke, wir müssen als Gesellschaft verstehen lernen: Investitionen in die Pflege lohnen sich, sind wirtschaftlich vernünftig.

Und wir müssen verstehen lernen: Unterstützung zu brauchen ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Auf andere angewiesen zu sein, ist ein menschlicher Normalzustand. Niemand ist aus sich selbst heraus. Wir werden geboren und wir würden die ersten Jahre unseres Lebens nicht überleben ohne andere, die für uns sorgen - uns füttern, waschen, laufen und sprechen beibringen. Das bleibt unser Leben lang so. Wir alle sind auf andere angewiesen: auf Kindergärtner, die sich um unsere Kleinen kümmern, auf Lehrerinnen, die sie unterrichten, auf Bauern, die unsere Lebensmittel produzieren, auf Ärztinnen, die uns heilen.

Selbstbestimmung bedeutet eben nicht Unabhängigkeit. Im Gegenteil: Wir sind angewiesen auf andere Menschen, um das Leben leben zu können, das wir gerne leben möchten. Gute Pflege heißt, für die Selbstbestimmung alter Menschen zu sorgen, sich darum zu kümmern, dass ihre Interessen ernst genommen und ihre Bedürfnisse gestillt werden.

Ich wünsche mir eine Pflege-Diskussion, in der Angewiesensein als selbstverständlicher Teil des menschlichen Lebens gesehen wird und in der die Würde des Alterns im Zentrum steht.
Wir werden immer älter. Und das ist gut so. Wie heißt es so schön in der Bibel? "Ich will ihn sättigen mit langem Leben." (Psalm 91,16)

Sendereihe

Gestaltung

  • Martin Gross