Martin Jäggle

Martin Jäggle - APA/HERBERT P. OCZERET

Gedanken für den Tag

Martin Jäggle über den Fall der Berliner Mauer

"Erinnern". Um Erinnern muss gerungen werden, meint Martin Jäggle, katholischer Theologe und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Als ich vor 30 Jahren in den Fernsehnachrichten vom Fall der Berliner Mauer erfuhr, habe ich damals vor Freude geweint, fassungslos geweint. So überwältigt hat mich das, was ich da sah. Diese Nacht war eine Freudennacht - nicht nur für die Menschen in Berlin - auch für mich in Wien und für viele in anderen Ländern.

Mit dem Fall der Berliner Mauer ohne Blutvergießen wurde eine unglaubliche, aber so erhoffte Möglichkeit plötzlich Wirklichkeit. Nicht nur die Mauern von Jericho, von denen die Bibel erzählt, können fallen. Die Berliner Mauer kann aber heute noch daran erinnern, was Mauern mit und aus Menschen machen, um wieviel schwerer es wohl ist, Mauern in den Köpfen zu Fall zu bringen.

30 Jahre danach ist die Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer bei mir nicht mehr mit Freudentränen, jedoch mit großer Dankbarkeit verbunden. Und etwas ist hinzugekommen, was am Tag ihres Falles ganz ausgeblendet blieb: die Erinnerung an jene, die in den 28 Jahren des Bestehens der Mauer diese nicht akzeptiert haben, sondern sie zu überwinden suchten, und dabei ermordet wurden. Die Erinnerung an sie bleibt untrennbar verbunden mit der Erinnerung an den Fall der Mauer.

Der Fall der Berliner Mauer ist aber auch das Symbol der sogenannten Wende. In dieser Zeit spielt der Roman "Liquidation" des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész, der in dieser Woche 90 Jahre alt geworden wäre. Er charakterisiert die Wende "in der verstörenden, plötzlichen Freiheit, in der die Vergangenheit liquidiert, die Biografien geändert werden. Nichts ist mehr gültig, es gibt keine erzählbare Geschichte mehr." Der Roman erzählt "von diesem Bruch, den man im ehemaligen Ostblock als tiefes Trauma erlebt", "wie man sich mit der eigenen Vergangenheit, nolens volens, auseinandersetzen muss".

Die Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer führte mich zu nachdenklicher Dankbarkeit.

Service

Buch, Imre Kertész, "Liquidation", Verlag Suhrkamp

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Klaus Meine
Album: WELCOME TO THE HARD ROCK CAFE
Titel: Wind of change
Ausführende: Scorpions /Gesang m.Begl.
Länge: 05:10 min
Label: Mercury 5124442

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