Oliver Tanzer

LUKAS BECK

Gedanken für den Tag

Oliver Tanzer über die Schöpfungsgeschichte

"Diesseits von Eden / Schöpfungstag/zeit". Oliver Tanzer, Autor, Journalist und Leiter des Wirtschaftsressorts der Wochenzeitung "Die Furche", versucht in seinen Gedanken über die Genesis einen Brückenschlag zwischen biblischer und moderner Welt

Im November 2019 geschah es, dass in Rom Statuen der südamerikanischen Schöpfer-Göttin "Mutter Erde", in der Inkasprache "Pacha Mama", gestohlen wurden. Ein rabiater Christ hatte sie aus einer Kirche entführt, in der sie ausgestellt waren und im Tiber versenkt. Der Fall erregte Aufsehen. Sogar der Papst entschuldigte sich für den Vorfall.

Pacha Mama ist nach dem Glauben der Inka nicht nur die Mutter der Menschen, sondern der Materie überhaupt. Und als Mutter des Kosmos fordert sie, die Dinge, Wesen und Taten nicht als Gut oder Schlecht zu beurteilen. Man solle hingegen in Erinnerung behalten, dass alles miteinander in Wechselwirkung steht. Ein jedes Teil sei gleich wichtig im Funktionieren des Ganzen - also etwa die Schabe, der Grashalm, der Stein, die Ameise, das Virus, der Mensch - einfach alles.

Das wirkt aufs erste absurd, ja warum soll man denn nicht gut und schlecht beurteilen? Aber es basiert auf einer tiefen Einsicht: Wer gut und schlecht definiert, wertet ja Dinge, Wesen, Ereignisse automatisch auf oder ab. Etwas oder jemand ist dann besser als ein anderes oder ein anderer. Daher erstrebenswerter. Und generell ist etwas gut, das einem selbst gefällt oder dient. Böse und schlecht ist aber das, das häßlich ist oder einen behindert oder gar von einem etwas wegnimmt. Diese Wertungen sind zwangsweise subjektiv und einseitig.

Vergleicht man das mit der biblischen Schöpfungsgeschichte, landet man unversehens bei einem ganz ähnlichen Bild: der Verstoßung des Menschen, weil er vom Baum der Unterscheidung von Gut und Böse gegessen hat. Und in Besinnung auf Pacha Mama, Mutter Erde, könnte man interpretieren: Bei der Ursünde dreht es sich gar nicht so sehr um die Schlange, Eva und den Teufel. Es hat mit der Manie des Menschen zu tun, das Gute für sich zu definieren und jedes Wesen und jede Materie diesem seinem Dafürhalten unterzuordnen, zu benutzen und zu entwerten. Und die Konsequenz aus der Übertreibung dieser Haltung ist Unterdrückung, Verschmutzung, Artenstreben und Klimawandel. In diesem Sinn ist die Versenkung von Pacha Mama im Schlamm des Tiber ein symbolischer Akt gewesen. Er beschreibt, wo wir stecken auf Mutter Erde.

Service

Tomas Sedlacek, Oliver Tanzer, "Lilith und die Dämonen des Kapitals. Die Ökonomie auf Freuds Couch", Carl Hanser Verlag
Oliver Tanzer, "Animal Spirits. Wie und Fledermäuse, Pantoffeltierchen und Bonobos aus der Krise helfen", Verlag Molden

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Manu Chao
Album: CLANDESTINO
Titel: Por el suelo
Solist/Solistin: Manu Chao /Gesang m.Begl.
Länge: 02:21 min
Label: Virgin France 8457832

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