Ein Sanitäter versorgt einen Patienten im Rettungswagen

APA/JAKOB GRUBER

Medizin und Gesundheit

Kann Leben retten - Neue Erkenntnisse der Gendermedizin

Herzkreislauferkrankungen, Depressionen und Angsterkrankungen, akute Infektionen und Entzündungen, Leber-, Nieren-, und Schilddrüsenerkrankungen sowie Schlaganfälle - das sind nur einige von vielen Krankheiten, bei denen geschlechtsspezifische Unterschiede eine entscheidende Rolle spielen. Das Problem dabei: Dieses Wissen sickert erst langsam in die medizinische Routine ein.
Während man bei einer Person mit Schlaganfall üblicherweise an einen älteren, übergewichtigen Mann mit Bluthochdruck denkt, sind europaweit in Wahrheit mehr Frauen als Männer von einem cerebralen Insult betroffen. Überdies verläuft die Rekonvaleszenz bei ihnen komplizierter. Das liegt auch daran, dass Frauen bei ihrem ersten Schlaganfall durchschnittlich bereits fünf Jahre älter sind und häufiger unter Vorhofflimmern und im fortgeschrittenen Alter auch unter Bluthochdruck leiden.

Falsche Annahmen

"Wir haben meistens ein Bild von einer Krankheit, von ihren Symptomen und den vermeintlichen Risikogruppen im Kopf", sagt Dr.in Miriam Hufgard-Leitner, MSc, Expertin für Gendermedizin. "Dies kann hilfreich sein, um Situationen schnell einzuschätzen. Andererseits besteht die Gefahr, dass man bei Symptomen, die nicht den klassischen Vorstellungen entsprechen, die Gefahr übersieht und nicht adäquat reagiert." So werden etwa noch immer Herzinfarkte bei Frauen nicht diagnostiziert, weil diese nicht immer die "klassischen Symptome" wie heftigen Brustschmerz oder Engegefühl in der Brust aufweisen, sondern "nur" Übelkeit, Schwindel oder Atemnot.

Die Frau als Störfaktor in der Medikamentenentwicklung

Bei Medikamentenstudien an Menschen sind meist lediglich 25 bis 30 Prozent der teilnehmenden Personen weiblich. Zyklusbedingte Hormonschwankungen, Verhütungsmittel und die Wechseljahre werden als Störfaktoren im Rahmen von Studien angesehen. "Hier muss sich rasch etwas ändern, denn der Organismus von Frauen reagiert auf Medikamente häufig anders. Frauen benötigen zum Beispiel oft niedrigere Dosierungen, etwa bei Präparaten zur Behandlung von Bluthochdruck, Herzschwäche oder Gerinnungsstörungen", so die Internistin und Kardiologin Prof.in Dr.in med. Dr.in h.c. Vera Regitz-Zagrosek.

COVID-19

Gendermedizin beschäftigt sich einerseits mit physiologischen Abläufen bei Mann und Frau. Ein weiterer wichtiger Forschungsbereich der Gendermedizin sind die soziokulturellen Einflüsse auf die weibliche und männliche Gesundheit.
COVID-19 ist dafür ein gutes Beispiel. Beide Geschlechter sind gleich häufig von der Infektion betroffen, allerdings versterben daran deutlich mehr Männer als Frauen. Die genaue Ursache dafür ist noch nicht geklärt. Es wird vermutet, dass es etwas mit den Unterschieden im männlichen und weiblichen Immunsystem zu tun hat. Frauen sind allgemein gegen Infekte etwas besser gerüstet als Männer. Im Gegenzug treten bei ihnen häufiger Autoimmunerkrankungen (Hashimoto-Thyreoiditis, Multiple Sklerose, Rheuma etc.) auf. Derzeit besonders aktuell: Frauen reagieren auf Impfungen zumeist stärker. Sie benötigen daher geringere Mengen eines Impfstoffes.
Andererseits ist die Gesundheit von Frauen in der Coronakrise aufgrund soziokultureller Gründe beansprucht. So arbeiten beispielsweise mehr Frauen als Männer in systemerhaltenden Berufen. Sie können sich nicht im Homeoffice vor dem Virus schützen und stehen wegen dem Homeschooling oder der Betreuung von Familienmitgliedern neben der Arbeit zusätzlich unter Stress. Zudem verdienen Frauen noch immer weniger als Männer, was sich negativ auf ihre gesundheitlichen Versorgungsmöglichkeiten auswirkt.

Auch Männer manchmal benachteiligt

Die genaue Analyse geschlechtsspezifischer Faktoren bei der Diagnose und Therapie von Erkrankungen ist natürlich auch für Männer von Bedeutung, so Vera Regitz-Zagrosek. "Bei einer Studie zu einem Medikament, das gegen Herzschwäche eingesetzt wird, gab es ein erstaunliches Ergebnis. Ein sogenannter Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitor wirkt bei Frauen ausgezeichnet, bei Männern deutlich schlechter."

Dieses Mal spricht Univ.-Prof.in Dr.in Karin Gutiérrez-Lobos mit ihren Gästen über die gesundheitlichen und medizinischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Fokus liegt in dieser Sendung auf den Besonderheiten bei der Frau.

Sendungsvorbereitung: Johanna Hirzberger, MA. MA.
Redaktion: Dr. Christoph Leprich, Mag.a Nora Kirchschlager

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Service

Sendungsgast im Funkhaus Wien:

Univ.-Lektorin Dr.in Miriam Hufgard-Leitner, MSc
Medizinische Universität Wien
Assistenzärztin an der Universitätsklink für Innere Medizin III
Gender-Medizin Expertin und Mitarbeiterin an der Gender Medicine Unit im AKH, Lehrbeauftragte an der Medizinischen Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20
1090 Wien
Tel: +43 (0)1 40400 - 20690
E-Mail
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Expertinnen am Telefon:

Prof.in Dr.in med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek
Internistin und Kardiologin, war 2008 bis 2019 Direktorin des "Berlin Institute for Gender in Medicine (GiM)" an der Charité, Universitätsmedizin Berlin und ist derzeit Seniorprofessorin an der Charité Berlin. Sie hat die deutschlandweit einzige Professur für frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herz-Kreislauf-Erkrankungen inne.
Tel.: +49 30 450 525172
Homepage

Dr.in Amma Yeboah
Psychodynamische Supervisorin & Coach
Fachärztin für Psychiatrie & Psychotherapie
Dozentin für Geschlechteraspekte der Medizin
Tel.: +49 (0) 176 66868117
E-Mail
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Weitere Anlaufstellen und Info-Links:

Netzwerk der österreichischen Frauengesundheitszentren
Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin
Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin
Gender Medicine Unit an der MedUni Wien
Coronakrise und Frauengesundheit
Bluthochdruck: Unterschätzte Gefahr für Frauen
Wie unser Geschlecht Symptome und Therapieerfolge beeinflusst
Dr.in Amma Yeboah über Gendermedizin

Buch-Tipps:

Michaela Döll, "Frauenherzen schlagen anders. Warum Frauen in der Medizin falsch behandelt werden und wie sie die richtige Therapie bekommen", Verlag: mvg Verlag (14. April 2020)

Alyson J. McGregor, "Sex Matters: How Male-Centric Medicine Endangers Women's Health and What We Can Do About It", Verlag: Hachette Go (19. Mai 2020)

Rosemarie Piontek, "Doing Gender: Umgang mit Rollenstereotypen in der therapeutischen Praxis", Verlag dgvt (3. März 2017)

Sendereihe