Petra Ramsauer über Angst

2. Februar 2021, 06:56

Wann hatten Sie zum letzten Mal so richtig Angst? Als Sie Ihr Kind im Einkaufszentrum verloren haben? Der Arzt sagte, es sei leider ernst? Sie nach dem Aussteigen an der Haltestelle jemand verfolgte? - Das war die altmodische Angst, an die erinnern Sie sich bestimmt. Aber es gibt Momente einer inneren Angst, die als solche Ihnen wahrscheinlich gar nicht bewusst ist. Sie ist etwa das wahre Gesicht eines chronischen Gefühls des "Nicht-genug-Sein".

Jeder und jede trägt eine andere Angst mit sich herum. In dem Gefühl steckt zwar die Geschichte der gesamten Menschheit, doch auch die des einzelnen Menschen. Ein interaktives und höchst individuelles Mosaik prägt, wie sich Angst anfühlt. Erfahrungen, die Gesellschaftskultur, in der jemand aufwächst, Prägungen der Evolution und der Familiengeschichte.

Angst geht - anders als die Furcht - über den Moment hinaus; oft sehr weit. Nicht das fürchterliche Ereignis macht Angst, vielmehr die Erwartung. Es geht also um Kommunikation, und dies auf allen Ebenen. Botenstoffe im Organismus übertragen das Angst-Signal, orchestrieren die Reaktion. Zentral ist auch die Rolle des inneren Dialogs, welche Geschichte sich jemand zu den Anhaltspunkten erzählt, die von den Sinnen wahrgenommen werden. Und natürlich ist die Kommunikation mit anderen wesentlich: Wenn jemand erklärt, was angeblich "wirklich" Angst machen soll: Flüchtlinge, zum Beispiel, oder Mobilfunk-Masten, die ein Virus verbreiten.

Jene Hirnareale, die für vernünftiges Abwägen, den sorgsamen Check der Informationen zuständig sind, haben im Angstzustand schlechte Karten. Das gilt in erster Linie im Moment spontaner Gefahr. Kampf - Flucht - sich Totstellen. Alles geht schnell. Doch auch wenn sich ein Problem nicht akut, sondern nur überwältigend anfühlt, sind rasche, einfache Lösungen verlockend. Sicherheit ist nötig, "es" wieder unter Kontrolle zu haben, dies behebt die nagenden Zweifel. - Diffuse Ängste bieten somit ein gefährliches Einfallstor für "Fake News", die bequeme Auswege aufzeigen oder Sündenböcke identifizieren. Ein Fluchtreflex im Moment der Angst. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.


In ihren "Gedanken für den Tag" beschreibt Petra Ramsauer einen möglich Weg - und zwar ihren eigenen: Wieso ihr mehr Angst bereitet, eine Lebens-Chance durch Risikovermeidung zu verpassen, als Risiken einzugehen. Vor allem versucht sie in dieser Ära der Ängstlichkeit, die Angst als Motor für Entwicklung zu definieren. Denn wenn niemand tiefe Ängste überwunden hätte, vor dem Feuer, vor dem Fliegen, dem Meer oder der Höllendrohung, hätte es keinen Fortschritt gegeben. Im Großen nicht - wie auch nicht im Kleinen.

Service

Petra Ramsauer, "Angst", Verlag Kremayr & Scheriau

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler