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Radiogeschichten

Die beste Freundin der Cellistin

"Wir im Schilf" von Ralf Rothmann. Es liest Roland Koch

"Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz?" fragt sich die Cellistin, während sie den leicht brackig riechenden Terrier auf ihrem Schoß krault. Der heiße schlicht Hund, sagt der Taxifahrer, der sie durch Westberlin zum Hotel fährt. Später wird Emilia eine Matinee spielen, aber davor muss sie zurück ins Hotel. Sie kam noch nie zu spät zu einem Auftritt, aber heute hat sie etwas vergessen. Und die Diagnose, die sie aus der Zürcher Praxis in die Stadt ihrer Jugend mitgenommen hat, wiegt im Gepäck.

"Fear is a man's best friend" ist das Motto, das Ralf Rothmann seinem neuen Erzählungsband "Hotel der Schlaflosen" vorangestellt hat. Dass Angst die beste Freundin sein kann, sang der britische Musiker John Cale 1974 - drei Jahre, bevor Iggy Pop und David Bowie mit Platten wie The Idiot und "Heroes" Westberliner Popgeschichte schrieben. Es ist ein Stück Geschichte, das der deutsche Schriftsteller Rothmann vor Ort miterlebt hat. Und auch sie, die Cellistin Emilia, hatte diesen James Osterberg, der sich Iggy Pop nennt, Ende der Siebziger in ihrer Wohnung sitzen, wo er ihnen das Koks wegschnupfte.

Rothmanns Geschichte "Wir im Schilf" funktioniert wie die ausholende Modulation eines Popsongs - sie enthält die Dauer einer Taxifahrt, eine Konzertlänge, in der ein Weltbild kippt, und die Pause zwischen zwei Herzschlägen, in der sich die Erinnerungen eines Lebens drängen.

Gestaltung: Antonia Löffler

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Ralf Rothmann: "Wir im Schilf". Aus dem Erzählungsband "Hotel der Schlaflosen". Suhrkamp 2020.

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  • Antonia Löffler

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