Büste von Gotthold Ephraim Lessing

DPA/MATTHIAS HIEKEL

Gedanken für den Tag

Susanne Heine über Gotthold Ephraim Lessing

"Über den Graben springen". Lessing könne auch heute vielen aus dem Herzen sprechen, meint die Religionspsychologin und evangelische Theologin Susanne Heine

Wer kann das glauben? Jesus weckt Tote auf und geht auf dem Wasser. Damit die Bibel doch recht hat, beginnt die Suche nach rationalen Erklärungen: Die Toten waren nur scheintot, und Jesus balanciert auf Treibholz. Einspruch der lutherischen Orthodoxie: Du musst an die Wunder glauben, denn jeder Buchstabe der Bibel ist von Gott inspiriert und unfehlbar. Martin Luther, heute vor 475 Jahren gestorben, hat die Bibel als Prüfstein des päpstlichen Lehramts eingesetzt. Beim konservativen Luthertum zu Lessings Zeiten ist die Bibel selbst zum unfehlbaren Papst geworden.

Ein kleiner Krimi. Lessing veröffentlicht Schriftfragmente, die er angeblich in der Bibliothek von Wolfenbüttel gefunden hat. Er verschweigt den Autor, obwohl er ihn kennt: Reimarus, Orientalist in Hamburg und sein verstorbener Freund, der an der Bibel kein gutes Haar lässt. Lessing stimmt nicht allem zu, will aber die Prediger des blinden Glaubensgehorsams aufmischen. Es gelingt, ein jahrelanger theologischer Streit folgt.

Wunder, Auferstehung, Erlösung - Lessing nimmt zur Kenntnis, dass Menschen das damals geglaubt haben. Aber heute? Dazwischen liegt der "garstige Graben" der historischen Distanz, über den er nicht springen kann. Lessing löst eine geistige Revolution aus, die in die historisch-kritische Exegese der Bibel mündet. Historisch, weil sie fragt, wie Menschen früher gelebt haben: ihr Freud und Leid, ihre existentiellen Probleme und Hoffnungen. Geschichte wird lebendig. Kritisch, weil Deutungen keine Tatsachen sind. Die Bibel ist kein historischer Bericht, sondern schildert mögliche Lebens- und Weltdeutungen.

Diese Unterscheidung setzt mich frei, einen eigenen Zugang zu den Texten zu finden, oder auch nicht; jedenfalls unabhängig von hilflosen Erklärungen oder der autoritären Forderung, dem biblischen Buchstaben oder der Kirche gehorsam zu sein. Die Kirchen haben sich lange gewehrt. Inzwischen ist die historisch-kritische Exegese zum Standard geworden.

Service

Friedrich Vollhardt, "Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk", Verlag Wallstein
Rüdiger Scholz, "Die heimliche Autobiographie des Gotthold Ephraim Lessing", Verlag Königshausen u. Neumann
Monika Fick, "Lessing-Handbuch", Verlag J. B. Metzler

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Gottfried Finger/um 1660 - 1730
Album: THE ENGLISH ORPHEUS VOL.12 : ODEN ZUM TOD VON HENRY PURCELL
* 2. Sarabande - 1.Satz (00:01:45)
Titel: Suite in g-moll "Farewell" - für 2 Oboen, Fagott, Streichinstrumente und Basso Continuo
Ausführende: The Parley of Instruments Baroque Orchestra
Leitung: Roy Goodman
Länge: 01:45 min
Label: hyperion CDA 66578

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