Zwischenruf

Martin Lintner über Sündenböcke

Warum Menschen in einer Krise oft Schuldige suchen, erklärt P. Martin Lintner, Professor für Moraltheologie in Brixen in Südtirol

Ich bin coronamüde. Es ergeht mir wie den wohl meisten von uns. Die Ungewissheit, was die kommenden Wochen bringen werden und wann wir endlich zur Normalität zurückkehren können, zehrt auch an meinen Nerven.

Ich möchte mit Ihnen eine Beobachtung teilen, die mich beschäftigt: Ich habe den Eindruck, dass es für manche Menschen eine Bewältigungsstrategie darstellt, Schuldige für die Coronakrise ausfindig zu machen und die negativen Emotionen auf sie zu projizieren. Am Anfang waren es die Chinesen, dann sorglose Jugendliche, die sich nicht an die Maßnahmen halten, oder Virologinnen, denen vorgeworfen wird, heute dies und morgen jenes zu sagen. Eine Zeitlang wurde sogar gegen ältere Menschen und Risikogruppen geschimpft: Um sie zu schützen, müsse die gesamte Bevölkerung ungebührlich negative Konsequenzen in Kauf nehmen. Ein beliebtes Ziel von Wut und Zorn sind schließlich Politiker und Politikerinnen. In meiner Heimat Südtirol musste vor einigen Wochen zum ersten Mal in der Geschichte der Landtag während einer Sondersitzung zur Pandemie polizeilich geschützt werden. Aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger hatten gedroht, den Landtag zu stürmen.

Was passiert hier? Ich glaube, die Theorie des Sündenbockmechanismus, die der französische Kulturanthropologe René Girard beschrieben hat, hilft uns zu verstehen. Dieser besagt, kurzgefasst, dass es sich auf eine Gesellschaft stabilisierend auswirkt, wenn sich Wut und Zorn auf einzelne oder auf eine Minderheit konzentrieren. Es wird ein Opfer ausgesucht, dem die Verantwortung für ein Übel zugeschoben wird. Es wird dafür bestraft und man erhofft sich, so das Übel zu bezwingen. Dahinter steckt die archaische Erfahrung, dass durch die rituelle Tötung eines Opfers Konflikte und Aggressionen gemildert werden und die Zusammengehörigkeit innerhalb einer Gruppe gefestigt wird. Der Tod des Opfers bringt neues Leben.

Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, die zeigen, wie dieser Sündenbockmechanismus wirkt: Denken wir an die unselige Tradition von Hexenprozessen, über die wir heute entsetzt sind, oder an Prozesse gegen Tiere im Mittelalter, über die wir heute eher schmunzeln. Wir leben im 21. Jahrhundert und verstehen uns als aufgeklärte Menschen. Wenn ich aber beobachte, wie sich auch heute Hilflosigkeit in Unmut wandelt und schließlich als Wut und Zorn gegenüber bestimmten Gruppen entlädt, habe ich den Eindruck, dass der archaische Sündenbockmechanismus weiterhin sehr wirkmächtig ist.

Mein Zugang: Wir werden die Pandemie nicht bewältigen, indem wir Opfer ausmachen und diese bekämpfen. Heute sieht wohl jeder vernünftige Mensch ein, dass die Hexenverbrennungen nicht geholfen haben, irgendwelche Übel zu überwinden. So sollten wir uns aus meiner Sicht auch nicht verleiten lassen, Verschwörungstheorien aufzusitzen oder Sündenböcke zu benennen und anzuklagen. Nehmen wir unsere Emotionen ernst, aber gehen wir den Sachen auch auf den Grund. Seien wir uns bewusst, dass eine Politik der Gefühle in der Krise nicht greift. Vertrauen wir einer Politik, die evidenzbasierte Maßnahmen trifft, selbst wenn neue Erkenntnisse oft neue oder geänderte Maßnahmen nötig machen. Und wenn die Meinungen über den Sinn einzelner Regeln divergieren. Seien wir zuversichtlich, dass Wissenschaft und Forschung Lösungen finden werden. Es klingt zwar etwas plakativ, aber: Bekämpfen wir das Virus, nicht andere Menschen.

Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Woody Schabata
Komponist/Komponistin: Gottfried Schnürl
Album: PRIMA LA MUSICA '06 - ERSTE PREISTRÄGER DES ÖSTERR. JUGENDMUSIKWETTB.
Titel: Five places - für Schlagwerkensemble
Percussion, Percussionensemble
Ausführende: Acoustic Art Percussion
Ausführender/Ausführende: Valentin Duit /Percussion
Ausführender/Ausführende: Valentin Duit/geb.1992
Ausführender/Ausführende: Tobias Meissl /Percussion
Ausführender/Ausführende: Tobias Meissl/geb.1993
Ausführender/Ausführende: Marcus Milischowsky /Percussion
Ausführender/Ausführende: Marcus Milischowsky/geb.1995
Ausführender/Ausführende: Timm Reinhardt /Percussion
Ausführender/Ausführende: Timm Reinhardt/geb.1993
Länge: 12:45 min
Label: SW 0102692/Musik der Jugend

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