Zwischenruf

Martin Schenk über Stolpersteine

"Stolpersteine" von Martin Schenk, Psychologe und Sozialexperte der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie

Der Bursche hat eine klassische Heimkarriere durchlaufen. Schon als kleines Kind war Raphael mit einer massiven Überbelastung seiner Familie konfrontiert. Er reagierte mit Auszucken. Seine Familie bleibt instabil und kann das Kind nicht adäquat versorgen.

Die "Zerrissenheit", die Raphael spürt, belastet seine Entwicklung sehr stark. Insbesondere in der Schule verstärken sich Frustration, Versagensängste, Wut und Aggression. In der Wohngemeinschaft, in die er als Jugendlicher kommt, gelingt es, Vertrauen aufzubauen, ihm Sicherheit und Stabilität zu geben. "Ich kann doch etwas", ist Raphaels erstmalige Erfahrung. Dann kommt der Sprung zur Lehre. Beim Betrieb mögen sie den Burschen. Sie finden sogar, er ist super.

Durch die Verzögerung und vielen Schleifen in seiner Entwicklung wird Raphael nun im ersten Lehrjahr 18 Jahre alt. Das heißt: Kurz vor der ersten Berufsschule muss er am Jahresende gesetzlich die WG verlassen und ohne Nachbetreuung seinen Weg alleine bestreiten. Seine Familie ist nicht in der Lage, Unterstützung zu leisten. Aktuell werden in Österreich nur 15 Prozent der Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem 18. Geburtstag verlängert.

Wie wird es mit Raphael weitergehen? Es gibt zwei Szenarien: Wenn er allein bleibt, werden ihn wohl seine Versagensängste wieder einholen: Das schaffe ich nicht, ich kann es gleich bleiben lassen. Mit der Unterstützung vertrauter Menschen kann er es aber schaffen, vielleicht sogar einer der wenigen werden, die die Berufsschule mit sehr gutem Erfolg abschließen. Ohne diese Unterstützung aber wird er wohl das machen, was er über lange Zeit vorher eintrainiert hat, es sich - vor befürchtetem Scheitern - selbst zerstören.

In Norwegen geht die Unterstützung bis zum Alter von 24 Jahren. In Deutschland können die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bis 26 verlängert werden.

Kinder und Jugendliche sind jetzt in der Corona-Krise massiv unter Druck. Wir merken das auch am Krisentelefon, in den mobilen Therapien, Jugendnotschlafstellen oder Wohngemeinschaften. Lehrstellen finden ist schwierig, Jugendarbeitslosigkeit hoch. Die jungen Leute, die zu unserer Notschlafstelle kommen, sind Überlebenskünstlerinnen und -künstler. Sie kennen Krisen. Sie sind mit Krisen aufgewachsen. Das gibt ihnen jetzt auch eine gewisse Stärke. Aber an den Umständen ändert es nichts.

Kleine Stolpersteine schafft man vielleicht alleine, große Stolpersteine schaffen wir nur gemeinsam. "Fürchte dich nicht, ich bin mit dir", so sagt es der Prophet Jesaja. "Ich stärke dich, ich helfe dir auch. Ich halte dich durch die Hand meiner Gerechtigkeit."

Jugendliche mit schwieriger Lebensgeschichte brauchen Begleitung und Betreuung über das 18. Lebensjahr hinaus. Diese Begleitung beugt Abstürzen vor. Mit nur drei Betreuungsstunden in der Woche könnte Raphaels Scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert werden. Das kostet nicht viel. Es wird uns allen aber ein Vielfaches kosten, wenn der Bursche kurz vor dem Ziel einfach allein gelassen wird.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Klaus Trabitsch
Album: LUFTDEPPERT
Titel: Fliang/instr.
Ausführende: Klaus Trabitsch /Instrumental
Länge: 04:19 min
Label: Extraplatte EX 1602 CD

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