Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Wolfgang Borchert

"Jesus macht nicht mehr mit". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über den Autor des wichtigsten Theaterstückes der deutschen Nachkriegszeit, anlässlich dessen 100. Geburtstages

Er lag unbequem in dem flachen Grab. Es war wie immer reichlich kurz geworden, so dass er die Knie krumm machen musste. Er fühlte die eisige Kälte im Rücken. Er fühlte sie wie einen kleinen Tod. Er fand, dass der Himmel sehr weit weg war.

Das ist der Anfang von Wolfgang Borcherts Erzählung "Jesus macht nicht mehr mit". Da liegt einer im Grab, und von oben fragen zwei Stimmen: "Na, passt es, Jesus?" Der Mann antwortet: "Jawohl. Passt." Langsam wird einem beim Lesen klar: Da ist von einem Soldaten die Rede, der im Krieg Gräber ausheben muss. Als er aus dem Grab herausklettert, sieht er einen dunklen Haufen. Und muss feststellen: Es sind Tote. Da legt er seine Spitzhacke beiseite und geht weg - durch den knirschenden Schnee auf das Dorf zu. Der Unteroffizier erteilt ihm den Befehl umzukehren, aber er kümmert sich nicht darum.

Der Unteroffizier weiß, dass er ihn wegen Dienstverweigerung melden muss. Und dann? Der Unteroffizier sagt sich: Der Alte lässt ihn vorführen. Der Alte hat immer seinen Spaß an Jesus. Dann brüllt er ihn zusammen, dass er zwei Tage nichts isst und redet, und lässt ihn laufen. Dann ist er wieder ganz normal für eine Zeitlang.

Der letzte Absatz der Erzählung erklärt, warum der Mann eigentlich Jesus heißt: Oh, das hat weiter keinen Grund. Der Alte nennt ihn immer so, weil er so sanft aussieht. Der Alte findet, er sieht so sanft aus. Seitdem heißt er Jesus. Ja, sagte der Unteroffizier und machte eine neue Sprengladung fertig für das nächste Grab, melden muss ich ihn, das muss sein, denn die Gräber müssen ja sein.

So oft ich diese Erzählung von Wolfgang Borchert auch gelesen habe - ich weiß noch immer nicht, gegen wen sich ihre Ironie richtet: gegen den Alten, den Vorgesetzen des Unteroffiziers und sein Klischee vom sanften Jesus oder gegen den Soldaten, dessen Weggehen nichts ändert: Die Todesmaschinerie und das Ausheben der Gräber gehen weiter. Ich lese nur: Da ist einer noch nicht abgestumpft, noch leidensfähig, er erträgt den Anblick der Toten nicht, an den sich alle anderen längst gewöhnt haben. Einer, der den Krieg nicht aufhalten kann, aber nicht mehr mitmacht. Er sieht Jesus wirklich sehr ähnlich.

Service

Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk", Rowohlt Verlag
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und andere Werke", Verlag Reclam
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen", Verlag Rowohlt
Peter Rühmkorf (Hg.), "Wolfgang Borchert. Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass", Verlag Rowohlt
Gordon J. A. Burgess (Hg.) und Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Allein mit meinem Schatten und dem Mond", Verlag Rowohlt
Gordon Burgess, "Ich glaube an mein Glück. Eine Biographie", Aufbau Taschenbuchverlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Sidney Bechet/1897 - 1959
Album: JAZZ TRIBUNE Nr.10 / THE COMPLETE SIDNEY BECHET VOL.1/2 (1932-41)
Titel: Blues of Bechet/instr.
Solist/Solistin: Sidney Bechet
Solist/Solistin: Sidney Bechet's One-Man Band
Ausführender/Ausführende: Sidney Bechet /Klarinette, Sopransaxophon, Tenorsaxophon, Piano, Bass, Drums
Länge: 01:53 min
Label: RCA ND 89759 (2 CD)

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