Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Wolfgang Borchert

"Jesus macht nicht mehr mit". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über den Autor des wichtigsten Theaterstückes der deutschen Nachkriegszeit, anlässlich dessen 100. Geburtstages

Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte.

So beginnt die Erzählung "Das Brot" von Wolfgang Borchert. Durch das dunkle Haus tappt die Frau in die Küche, macht Licht und steht ihrem Mann gegenüber - beide im weißen Nachthemd und beide irritiert von der Erkenntnis, dass der andere doch schon recht alt aussieht. "Ich dachte, hier wär was", sagt der Mann, doch die Frau schaut ihn nicht an, weil sie es nicht erträgt, dass er sie nach neununddreißig Ehejahren anlügt. Sie sieht nämlich den Teller auf dem Tisch und die Brotkrumen daneben. Der Mann hat heimlich eine Scheibe gegessen - das Brot ist rationiert.

Die Frau führt ihren Mann wieder zurück ins Schlafzimmer. Am nächsten Abend schiebt sie ihm vier Scheiben Brot hin statt wie bisher drei. Damit kommt Borcherts Erzählung an ihr Ende: "Du kannst ruhig vier essen", sagte sie und ging von der Lampe weg. "Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut." Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid. "Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen", sagte er auf seinen Teller. "Doch. Abends vertrag ich das Bot nicht gut. Iss man. Iss man." Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

Die beiden Eheleute können einander nicht ins Gesicht sehen. Der Mann kann nicht gestehen, dass er heimlich Brot gegessen hat, die Frau gibt ihm eine Brotscheibe mehr. Das ist die schönste Geschichte von alten Eheleuten, die ich kenne. Ich kenne ja alte Eheleute nur vom Hörensagen, denn meine Eltern haben nicht gemeinsam gelebt und auch ich habe es in keiner Ehe lange ausgehalten. So bleibt mir die Frau aus Borcherts Erzählung als unerreichbares Beispiel. Ich würde den Lügner ja bloßstellen. Die Frau aber gibt ihm nicht nur ihr Brot, sondern will auch, dass er sein Gesicht wahren kann.

Service

Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk", Rowohlt Verlag
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und andere Werke", Verlag Reclam
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen", Verlag Rowohlt
Peter Rühmkorf (Hg.), "Wolfgang Borchert. Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass", Verlag Rowohlt
Gordon J. A. Burgess (Hg.) und Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Allein mit meinem Schatten und dem Mond", Verlag Rowohlt
Gordon Burgess, "Ich glaube an mein Glück. Eine Biographie", Aufbau Taschenbuchverlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: George Shearing
Bearbeiter/Bearbeiterin: Max Harris /Arrangement
Album: STRICTLY FOR THE BIRDS
Titel: Lullaby of Birdland/instr.
Solist/Solistin: Yehudi Menuhin /Violine m.Begl.
Solist/Solistin: Stephane Grappelli /Violine m.Begl.
Ausführende: Unbekannt
Leitung: Max Harris
Länge: 03:52 min
Label: EMI CFP 4549 < CDB 7626722 >

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