Kurt Neumann über H. C. Artmann

7. Juni 2021, 06:56

Wunder von Dichtkunst, Liebe und Freigeisterei

im zimmer dämmert kerzenlicht
das golden alle gegenstände säumt.
aus irgendwo tickt's in die abendstille.
so schweigt die welt.
und vor mir hängt ein mattes spiegelglas.
in diesem glase seh ich dein gesicht
das über meine schulter blickt, gelöst
und ruhig, ganz als wäre es ein bild
das alte meister malten, wenn sie träumten
von einem augenpaar, vielleicht,
wie ich jetzt eins in jenem spiegel sehe.

Dieses frühe Gedicht H. C. Artmanns, der am 12. Juni vor 100 Jahren in Wien zur Welt gekommen war, trägt den Titel Im Zimmerspiegel.

Darin leuchten schon einige der Qualitäten, die sein gesamtes Schaffen zu einem einzigartigen Wunderwerk der deutschsprachigen, der europäischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts werden ließen.

Das Gedicht wirkt ganz schlicht und fasst doch die Brüche zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Bild der Empfindungstiefe und der großen Erwartung. Es zeigt den Riss zwischen Entrücktheit und Zeitgebundenheit der Liebesbegegnung, zwischen einem von den Malern geprägten kollektiven Wissen über die Liebe und seine Spiegelung in die Gegenwart des Sprechenden.

Stete Verwandlung durchwirkt wie ein Leitmotiv Artmanns Literatur und Leben, seine Legende vom Geburtsort St. Achatz am Walde rief gerne gutgläubiges Staunen hervor, und eine atemlose Selbstbeschreibung aus dem Jahr 1964 endet mit: eine flasche Grappa zerbrochen, "mi vida" geflüstert, grimassen geschnitten, ciao gestammelt, fortgegangen, a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler

Übersicht

• H. C. Artmann zum 100. Geburtstag