Oliver Tanzer über Jean de La Fontaine

5. Juli 2021, 06:56

Jean de La Fontaine ist nun schon seit über 300 Jahren tot und trotzdem äußerst lebendig. Etwa mit seinem immer aktuellen Ratschlag für notorische Langschläfer, die täglich dem Bus, der Straßenbahn oder sonstigen Verkehrsmitteln hinterherlaufen müssen: "Rennen, das macht keinen Sinn, wenn man zu spät abmarschiert. Das hat der Hase, der verschlief und von der Schildkröte überlaufen wurde, einst ganz vortrefflich demonstriert."

So ist das fabelhafte Universum des Jean de La Fontaine nicht nur mit Tieren, sondern mit Rat und Weisheit aller Art aufgeladen und befüllt. Einige von ihnen sind alltäglicher Natur. Bei anderen aber macht sich der Dichter seinen eigenen Reim auf die Gesellschaft und ihre Mitglieder, dargestellt durch ausgefuchste Füchse, findige Mäuse, aufgeblasene Frösche, zornige Wölfe oder beredte Grillen.

Es geht da um Mechanismen von Macht und Machterhalt, den Erfolg und seinen Preis, um Formen der Angst oder um die Ungleichheit von Vermögen und Gütern. In diesem Sinn hat er Gedichte aufgeschrieben, die auch heute aktuell sind in Debatten um Klimaschutz, Rechtsstaat, Freiheit oder Politik. Und so heißt es diese Woche: Vorhang auf für Tiere, aber letztlich Vorhang auf für uns selbst. Oder wie La Fontaine sagt:

"Das Bild, ob es auch trüge, das des Dichters Traum erfüllt,
zeigt uns Wahrheit in der Lüge zauberisch Gewand gehüllt."

Und weiter:

"Man sagt, die Welt ist alt. Das glaub ich. Doch gewinnt
nur wer sie unterhält, als wäre sie ein Kind."

Sätze wie diesen kann man sich überlegen in aller Seelenruhe. Etwa dann, wenn man sich frei nach La Fontaine entscheidet, dem Bus nicht mehr nachzuhetzen, sondern würdig und gemessenen Schritts zu spät in die Arbeit zu wandeln. Man ist ja doch kein Hasenfuß.

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler