Die unerwartet rasche Rückeroberung Afghanistans

19. August 2021, 13:00

Die erschütternden Bilder, die seit Beginn der Woche aus Kabul kommen, und die unzähligen Kommentare in allen Medien der Welt werfen wieder und wieder die Frage auf: Wie konnte es den radikalislamischen Taliban gelingen, in so kurzer Zeit das ganze Land zurückzuerobern?

Die vom Westen, allen voran von den Vereinigten Staaten hochgerüstete afghanische Nationalarmee hat dem Siegeszug der islamischen Miliz kaum etwas entgegenzusetzen vermocht. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch die Vereinten Nationen und die Europäische Kommission haben die Lage vor dem beginnenden Truppenabzug völlig falsch eingeschätzt. Und offenbar haben auch westliche Geheimnisdienste unzuverlässiges Material geliefert.

Der Politikwissenschaftler und Sozial- und Kulturanthropologe Thomas Schmidinger - ein intimer Kenner der muslimischen Welt vom Sudan bis zu Zentralasien - verweist in diesem Zusammenhang auf die enormen sozialen Unterschiede in Afghanistan. Diese resultieren einerseits aus dem Gefälle zwischen Stadt und Land, andererseits aus der Etablierung einer traditionellen Oberschicht, die von den westlichen Besatzern auch noch gefördert und gestärkt wurde. Neben den nach wie vor ungelösten ethnischen Spannungen haben diametral entgegengesetzte Klasseninteressen den neuerlichen Aufstieg und den triumphalen Siegeszug der Taliban erst ermöglicht.

In welcher Weise hat das soziale Gefälle zwischen Stadt und Land den raschen militärischen Sieg der Taliban begünstigt? Was ist schief gelaufen bei der Rekrutierung und Ausbildung einer afghanischen Nationalarmee? Werden die moderaten und pragmatischen Stimmen der Taliban, die jetzt zu hören sind, und die davon sprechen, dass die Menschenrechte eingehalten werden, dass Frauen weiterhin die Universitäten besuchen dürfen und dass die Mitglieder der letzten Regierung und deren Administration vor Verfolgung und Racheakten verschont bleiben, sich auch in Zukunft durchsetzen? Was resultiert aus dem Umstand, dass die Taliban durch ihren Eilfeldzug Militärgerät - Waffen, Panzer, Flugzeuge, Drohnen etc. - im Wert von rund 80 Milliarden US-Dollar erobert haben und damit zur weltweit bestgerüsteten radikalislamischen Organisation geworden sind? Welche Auswirkungen sind daraus für andere radikale Gruppen wie Al Kaida und IS - Islamischer Staat - zu erwarten? Folgt dem militärischen Feldzug ein propagandistischer, der die westliche Welt zutiefst verunsichern muss?

Thomas Schmidinger ist zu Gast bei Andreas Obrecht und wie immer freut sich die Redaktion über rege Beteiligung an dem Gespräch, unter 0800 22 69 79 während der Sendung oder unter punkteins(at)orf.at

Sendereihe

• Punkt eins

Gestaltung

• Andreas Obrecht