Ilse Aichinger, 199

APA/DPA/MARTINA HELLMANN

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Ilse Aichinger

"Aufruf zum Misstrauen". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über die österreichische Schriftstellerin anlässlich deren 100. Geburtstages

Aufstehen, verlieren, suchen. So lautet einer der sechs kargen Sätze in Ilse Aichingers Aufzeichnungen aus dem Jahr 1976. Ohne Kontext ist nicht einmal klar, ob das Aufstehen aus einer sitzenden Position oder das morgendliche Aufstehen gemeint ist. Mir scheint es ein gutes Tagesprogramm: Aufstehen, verlieren, suchen. Dass man nicht mit der Fülle seiner Überzeugungen und Pläne und seiner Selbstgefälligkeiten aus dem Bett steigt und in den Tag geht, sondern etwas verlieren muss, um suchen zu können. Und dass Suchen wichtiger ist als Finden.

Die Mystiker haben das wohl ähnlich gesagt, wenn sie über die Leere sprechen und über das Leer-Werden. Aber Ilse Aichingers knapper und einfacher Satz ist mir näher: Aufstehen, verlieren, suchen. Mit dem kann ich in den Tag hinausgehen.

Und da ist noch ein Aichinger Satz, ein älterer, aus den Aufzeichnungen von 1960, der mir bei Tagesanbruch einfällt: Den Augenblick aufrechterhalten. Seit Jahren schon schreibe ich an Prosaskizzen, die sich an einzelnen Augenblicken meines Lebens entzünden, schrecklichen und schönen Augenblicken. Der Satz von Ilse Aichinger hat mir endgültig klar gemacht, was ich damit will: Mein Leben nicht einebnen in das Kontinuum eines erzählbaren Stromes von Ereignissen, sondern eben: Den Augenblick aufrechterhalten - einen einzelnen Augenblick von früher oder den Augenblick eines neuen Tages.

Ilse Aichinger hat auch gesagt: Schreiben ist sterben lernen - es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf. Es ist deswegen alles zum letzten Mal, weil sich ein Augenblick nicht wiederholt. Oder wie es der griechische Philosoph Heraklit gesagt hat: "Alles fließt." Und deswegen kann man auch nicht zweimal in denselben Fluss steigen - weil der Fluss inzwischen ein anderer geworden ist - und man selbst auch. Diese Lebendigkeit und Vergänglichkeit gibt jedem Augenblick seinen Wert und macht ihn kostbar. Und darum eben: Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf.

Service

Literatur:

Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Hg. Richard Reichensperger, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991
Die Bände sind auch einzeln erhältlich.

Weitere in der Sendung zitierte Werke von Ilse Aichinger:

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003 - enthält die Staatspreisrede vom 20. März 1996 nachzulesen (Der Boden unter unseren Füßen)

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946-2005, Hg. Andrea Dittrich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und Nachwort von Simone Fässler. Edition Korrespondenzen 2011 (der Band enthält das Gespräch mit Cornelius Hell: Dazwischen ist sehr viel Schweigen)

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludovico Einaudi
Gesamttitel: Nomadland / Original Filmmusik
Titel: Petricor/instr.
Solist/Solistin: Ludovico Einaudi /Klavier, Rhodes, Samples m.Begl.
Ausführender/Ausführende: Daniel Hope /Violine
Ausführender/Ausführende: Federico Mecozzi /Violine
Ausführender/Ausführende: Redi Hasa /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Alberto Fabris /Synth Bass, E-Bass
Länge: 06:32 min
Label: Decca/Universal Promo

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