Ilse Aichinger, 199

APA/DPA/MARTINA HELLMANN

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Ilse Aichinger

"Aufruf zum Misstrauen". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über die österreichische Schriftstellerin anlässlich deren 100. Geburtstages

"Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nie gelang." Das ist ein zentraler Satz in Ruth Klügers Autobiografie "weiter leben. Eine Jugend". Als Elfjährige wurde sie mit ihrer Mutter in das KZ Theresienstadt deportiert und hat danach in den USA und in Deutschland gelebt. Am 5. Oktober des Vorjahres ist sie verstorben, heute wäre sie 90 Jahre alt.

Ilse Aichinger, die am Montag ihren 100. Geburtstag hätte, hat sich diesen Satz in Ruth Klügers Buch dick angestrichen: "Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nie gelang." Er traf ja auch auf sie selbst zu. Zunächst in einem buchstäblichen Sinn: Während ihre Zwillingsschwester im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England fliehen konnte, steckte der Rest der Familie nach Kriegsbeginn in Wien fest.

Ilse Aichingers Großmutter und die jüngere Schwester ihrer Mutter wurden in das KZ Maly Trostinez in Weißrussland deportiert und dort ermordet, während die noch minderjährige Ilse Aichinger das lebende Schutzschild für ihre Mutter war - die musste ja die "Halbarierin", wie es in der Nazi-Terminologie hieß, betreuen. Und als Ilse Aichinger dann volljährig wurde, versteckte sie die Mutter und riskierte damit ihr eigenes Leben.

Als 1948 ihr einziger Roman "Die größere Hoffnung", erschien, der aus den Überlebens-Erfahrungen in der NS-Zeit gespeist ist, wurde Ilse Aichinger weit über Österreich hinaus berühmt und lebte in Deutschland, später mit ihrem Mann Günter Eich und den beiden Kindern in Großgmain bei Salzburg. 1988 kehrte sie - nach wenigen Jahren in Frankfurt - zurück nach Wien.

"Ich selbst habe der Stadt Wien gegenüber wenig Toleranz, weil ich hier das Schlimmste gesehen habe", sagte mir Ilse Aichinger 1997 in einem langen Gespräch. Als sie 2002 mit dem Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet wurde, kritisierte sie in ihrer Preisrede die Herrschaft der "harten Herzen und weichen Geister". Ilse Aichingers Auffassung von Toleranz hat nichts mit der Vernebelungsrhetorik der "weichen Geister" gemeinsam, aber sehr viel mit dem genauen Blick auf Menschen und Dinge. "Genau hinsehen, was geschieht" lautet ein Leitsatz ihrer Aufzeichnungen.

Service

Literatur:

Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Hg. Richard Reichensperger, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991
Die Bände sind auch einzeln erhältlich.

Weitere in der Sendung zitierte Werke von Ilse Aichinger:

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003 - enthält die Staatspreisrede vom 20. März 1996 nachzulesen (Der Boden unter unseren Füßen)

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946-2005, Hg. Andrea Dittrich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und Nachwort von Simone Fässler. Edition Korrespondenzen 2011 (der Band enthält das Gespräch mit Cornelius Hell: Dazwischen ist sehr viel Schweigen)

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Jeong Jae-il
Gesamttitel: Parasite / Original Filmmusik
Titel: Opening
Anderer Gesamttitel: Gisaengchung
Ausführende: Filmensemble
Länge: 02:08 min
Label: Milan/Sony

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