Zwischenruf

Maria Katharina Moser über Verantwortung und Freiheit

Von Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich

Erster Adventsonntag. Die Zeit des Wartens beginnt. Heuer ist das Warten ein doppeltes: Warten auf die Ankunft des "Herrn der Herrlichkeit", der - wie es in einem bekannten Adventlied heißt - Heil und Leben mit sich bringt und all unsrer Not ein Ende macht, dessen Zepter Barmherzigkeit und dessen Gefährt Sanftmütigkeit ist. Und warten auf das Ende des Lockdowns.

Die vierte Corona-Welle hat uns überrollt. Mit noch größerer Wucht als die Wellen davor hat sie uns getroffen. Und auch die Wucht der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen nimmt zu. Zehntausende gehen auf die Straße, um kundzutun, dass sie Lockdown und Impfung ablehnen. Ganz normale Leute, Familien mit Kindern, Regierungskritiker/innen verschiedener Couleur, Anhänger/innen der Alternativmedizin, Esoteriker/innen, Christ/innen.

An die Spitze der Demonstrationszüge haben sich Neonazis und Identitäre gesetzt. Und so mischen sich rassistische Parolen unter Geschichten von Impfschäden, Warnungen von einer "Corona-Diktatur" und Slogans wie "Mein Körper gehört mir". Manche spinnen Verschwörungstheorien, andere meinen, eine Demokratie müsse es aushalten, wenn Menschen bei privaten Themen unterschiedlicher Meinung sind. Sie hätten keine Angst vor dem Virus, sie gehörten nicht zur Risikogruppe und könnten auf ihr Immunsystem vertrauen, erklären die einen, andere wollen sich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wie sie leben sollen.

Es sind sehr verschiedene Menschen und unterschiedliche Motive, die sich im Protest versammeln. Zwei Worte fallen besonders häufig: Freiheit und Grundrechte. Freiheit und Grundrechte - das sind Werte, die auch ich hochhalte. Werte, die ich - wie so viele, die sich impfen lassen und Schutzmaßnahmen wichtig finden - verteidigen will.

Was ich mich frage: Warum finden Menschen Impfung und Lockdown schlimmer als diese Krankheit, die für tausende Krankenhaus, Intensivstation, Langzeitfolgen oder gar den Tod bedeutet?

Liegt es vielleicht am Menschenbild, am Selbstverständnis? Ich habe den Eindruck, Menschen, die Impfung und andere Schutzmaßnahmen ablehnen, wähnen sich unverletzlich. Sie gehören zu den Starken. Den Gesunden. Denen mit kräftigem Immunsystem. Dieses Virus, für das freie Auge nicht sichtbar, wird sie nicht treffen. Wo ist in diesem Denken Raum für Verletzlichkeit und für die, die vulnerabel sind?

Wir müssen neu ins Gespräch kommen über die Frage: Wer sind wir als Menschen - und damit als Trägerinnen der Freiheits- und Grundrechte? Der Advent kann dabei helfen. Diese Zeit, in der wir warten auf die Ankunft Gottes in dieser Welt. Der "Herr der Herrlichkeit" kommt als Kind, in Windeln gewickelt in einer Krippe liegend. Ein Neugeborenes - so klein, so verletzlich und angewiesen auf andere, die es umsorgen und beschützen.

Die Menschenwerdung Gottes erzählt, wer der Heiland ist - und was zum Menschsein gehört: Wir Menschen sind verletzliche Wesen. Angewiesen auf andere. Manche von uns mehr, andere weniger, auch je nach Lebensphase. Das ruft uns in die Verantwortung füreinander. Verantwortung ist die andere Seite der Freiheit. Und die Sorge umeinander, das gegenseitige Schützen ist die Voraussetzung, damit wir frei leben können - als einzelne und als Gesellschaft.

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Joe Zawinul
Album: Tales of Herbst
Titel: In a silent way/instr.
Ausführende: Brot & Sterne
Ausführender/Ausführende: Franz Hautzinger /Trompete, Electronics
Ausführender/Ausführende: Matthias Loibner /Drehleier, Electronics
Ausführender/Ausführende: Peter Rosmanith /Hang, Percussion
Länge: 06:35 min
Label: Traumton Records 138242

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