AFP/FRED TANNEAU
Spielräume - Nachtausgabe
Seit fünfzig Jahren Kult: Long live Jethro Tull
(Fortsetzung). Zu einem Unikum der Rockmusik.
15. Jänner 2022, 00:05
Eine gewagte Kombination aus Stilen, rekordverdächtig raffinierte Konzeptalben und die Querflöte als Lead-Instrument: Die Band Jethro Tull und ihr Mastermind, der Sänger, Autor, Komponist, Flötist und Lachszüchter Ian Anderson, waren - oder sind? - eine der außergewöhnlichsten Erscheinungen der Popgeschichte.
40 Mitwirkende zählte die Formation, die in fünf Jahrzehnten 21 Studioalben veröffentlicht hat (neben ungezählten Live-, Raritäten- und Best-of-Zusammenstellungen). 2014 kündigte Bandleader Ian Anderson an, in Zukunft nur mehr unter seinem Namen auftreten zu wollen. Diesen Beschluss machte er allerdings wieder rückgängig: Jethro Tull sind zurück und für Ende Jänner ist mit The Zealot Gene das erste Album seit 2003 angekündigt.
Prog-Rock, Folk-Rock, Hard-Rock, Barock: Wohl kaum eine Band hat so viele Phasen durchgemacht und so unterschiedliche Elemente inkorporiert, damit Furore gemacht, aber auch immer wieder Fans und Kritiker:innen befremdet, wie während einer ausgedehnten elektronischen Etappe ab den 1980er Jahren.
Am Beginn stand das britische Blues-Revival - und ein ironischer Rückblick: This Was hieß 1968 das Debutalbum und zeigte die Anfangszwanziger als augenscheinlich recht heruntergekommene alte Männer mit grauen Bärten. Der Titel, so Ian Anderson später, war bewusst gewählt, zur Bezeichnung eines historischen Zeitpunkts: Die spätere Verwandlung der Band seien schon damals vorausgedacht gewesen.
In der Tat: Jethro Tulls Alben Anfang der 1970er Jahre begründen ein eigenes Genre. Aqualung (1971) gilt vielen als Meilenstein und Meisterstück, seine Einordnung als Progressive-Rock-Konzeptalbum bestreitet Ian Anderson aber - um ein Jahr später ein Non-plus-ultra dieser Art vorzulegen: Thick As A Brick. Das Album hieß nach seiner Textgrundlage: einem epischen Gedicht des achtjährigen Volksschülers Gerald Bostock. Das Cover zeigt die Berichte der Lokalzeitung St. Cleve Chronicle über das frühreife Genie.
"My words but a whisper - your deafness a SHOUT."
Dramatisch akzentuiert die Musik die Dichtung, in einer ununterbrochenen Komposition über zwei LP-Seiten, die "Mutter aller Prog-Rock-Alben" (Anderson) ist geboren. Aus dem Hoax betreffend die Herkunft des Texts macht der wahre Urheber dabei kein Hehl . und veröffentlicht 2012 eine Fortsetzung: Die Show und CD Thick As A Brick 2 berichten darüber, wie es dem Kind als Erwachsenen erging: in fünf fiktiven Lebensläufen, erzählt mit Dickens-artiger sozialer Schärfe.
Ian Andersons Musik und Texte sind ein Universum für sich, Jethro Tull seit 50 Jahren Kult - dazu gehören auch viele legendäre Auftritte; der Flötist - früher mit unbändiger Haartracht, in letzten Jahren mit Piratenkopftuch - typischerweise auf einem Bein balancierend und mit schier unerschöpflicher Energie gesegnet. Am 10. August wird Ian Anderson seinen 75. Geburtstag feiern.
Für diese Spielräume Nachtausgabe geplant: ein Live-Auftritt der Jazz-Musiker Wolfgang Puschnig (Flöte) und Paul Urbanek (Klavier) mit Kompositionen von und im Geist von Jethro Tull; Gespräche über Themen rund um die Geschichte und das Phänomen Jethro Tull mit den Gästen: Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Tamara Radak und Musikjournalist Martin Schuster, die auch exemplarische (Lieblings-)Stücke präsentieren - und Band-Mastermind Ian Anderson ist in Interviewausschnitten zu hören.
Gestaltung: Julia Reuter und Helmut Jasbar