Anna Weidenholzer über Kuh auf der Flucht

10. Februar 2022, 06:56

"In Polen kämpft eine Kuh seit Wochen mit allen Mitteln dagegen, zum Schlachthof gebracht zu werden", las ich vor einigen Jahren in einem deutschen Nachrichtenmagazin. Das Tier habe auf seiner Flucht einem Hilfsarbeiter den Arm gebrochen, ehe es sich durch einen Zaun gerammt habe und auf eine unbewohnte Insel geschwommen sei.
Keine ungewöhnliche Nachricht. Geschichten von flüchtenden Kühen tauchen immer wieder auf, prominentestes Beispiel hierzulande ist Kuh Yvonne, die unter großem internationalem Interesse untertauchte, bis sie nach drei Monaten eingefangen und auf einen Gnadenhof gebracht wurde. Medien von Großbritannien bis Indien berichteten über ihr Schicksal.
Empathie ist etwas zutiefst Irrationales. Müssten wir nicht ständig weinen, über unseren Schnitzeln, Schweinsbraten und Rindsrouladen, wenn uns das Schicksal einer einzelnen Kuh bewegt? Wie lässt sich das Interesse an einer Kuh erklären, während die toten Geflüchteten im Mittelmeer oder Ärmelkanal nichts als bloße Zahlen sind?
Ein drastisches Beispiel, und doch: Begegnen wir menschlichem Leiden, ohne zu wissen oder ahnen, woher dieses Leiden kommt, fällt unser Mitgefühl üblicherweise geringer aus. Wir verstehen die Welt um uns herum, indem wir in Geschichten denken, wir verstehen uns, indem wir erzählen. Dazu Elif Shafak: "Geschichten führen uns zusammen. Nicht erzählte Geschichten trennen uns. Wir bestehen aus Geschichten - solchen, die abgeschlossen sind, noch andauern oder erfunden werden, mithilfe von Wörtern, Bildern, Träumen und dem unaufhörlichen Staunen über die Welt. Ungeschminkte Wahrheiten, intimste Gedanken, Erinnerungsfragmente, nie geheilte Wunden. Wer seine eigene Geschichte nicht erzählen darf, zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen wird, den beraubt man seiner Menschlichkeit."

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