Zwischenruf
Stefan Schröckenfuchs über Ehrliche Betroffenheit - betroffene Ehrlichkeit
Von Stefan Schröckenfuchs, Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich
13. März 2022, 06:55
Ich gehöre zu einer Generation, die Kriege nur aus den Nachrichten kennt. Dass Österreich in einen internationalen Konflikt hineingezogen werden könnte, schien selbst während der Jugoslawienkriege in den Neunzigerjahren kaum vorstellbar. Unterschiedliche Meinungen zwischen Rechtsstaaten werden auf dem Parket der Diplomatie ausgetragen. Der Überfall eines souveränen Staats durch einen anderen schien ausgeschlossen.
Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland genau dies jedoch getan. Die Betroffenheit ist entsprechend groß. Sie zeigt sich im Zusammenrücken der Länder der EU. Und sie zeigt sich in einem großer Hilfsbereitschaft gegenüber jenen, die vor dem Krieg fliehen. Ich bin froh, diese Bereitschaft zur Solidarität zu sehen.
Zu meiner Betroffenheit mischen sich aber auch andere Gefühle. Eines davon ist die Sorge, dass von nun an die Welt wieder zunehmend in Schwarz und Weiß eingeteilt wird. Mit Putin gibt es wieder einen Feind, den man so nennen darf. Seinetwegen scheint es auch legitim, Russland - zumindest wirtschaftlich - auf vernichtende Weise zu bestrafen. Dass die Bevölkerung Russlands - immerhin sind das 144 Millionen Menschen - mehr Differenzierung verdienen würde, sollte man jedoch nicht übersehen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainerinnen dagegen gelten plötzlich als Heldeninnen und Helden Europas. Die Bereitschaft, sie willkommen zu heißen, scheint grenzenlos. Das ist in der gegebenen Situation und vor dem Hintergrund der historischen Beziehung Österreichs zur Ukraine verständlich. Im Licht der gegenwärtigen Solidarität wird aber sichtbar, wie sehr wir in unserer Bereitschaft zur Solidarität differenzieren. Menschen anderer Hautfarbe bzw. kultureller und religiöser Prägung haben zuletzt deutlich weniger Solidarität erfahren.
Das lässt sich auch in der gegenwärtigen Fluchtbewegung beobachten. Kurz nach Beginn der russischen Invasion wurde ich durch kirchliche Kontakte auf sechs junge Männern aus Sierra Leone aufmerksam, die seit 10 Jahren in Kiew leben. Wie viele andere auch sind sie zunächst in den Westen der Ukraine geflohen. Dank guter Beziehungen zur Methodistenkirche in der Slowakei ist es uns gelungen, sie dann für einige Tage in Michalovce im Osten der Slowakei unterzubringen. Ihr Versuch, sich in Folge zu Freuden in Deutschland durchzuschlagen hat jedoch rasch in einem Polizeianhaltezentrum an der deutschen Grenze geendet. Flüchtende mit heller Hautfarbe dagegen konnten ohne Kontrolle weiterreisen. Seither habe ich den Kontakt verloren. Berichte wie diesen höre ich gegenwärtig häufig.
In der Bibel wird die bekannte Geschichte vom "Barmherzigen Samariter" überliefert. Ihre Pointe besteht darin, dass ein Ausländer, der obendrein Anhänger einer gering geschätzten religiösen Gruppe ist, sich selbstlos um das Opfer eines Raubüberfalls kümmert. Die Landsleute des Ausgeraubten dagegen lassen ihn im Stich. Der biblische Auftrag zur Nächstenliebe kann vor diesem Hintergrund nicht nur auf jene beschränkt werden, die mir geographisch oder kulturell nahe stehen. Sie sollte jedem Menschen gelten, der mich als seinen Nächsten braucht - unabhängig von Status, Herkunft oder Religion.
Als Europäerinnen und Europäer, die die Werte "Freiheit, Gleichheit und Solidarität allen Menschen gegenüber" hochhalten, tun wir meiner Meinung nach gut daran, gerade jetzt den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Sendereihe
Playlist
Komponist/Komponistin: Benjamin Britten
Titel: Six Metamorphoses after Ovid for solo oboe op.49
* 11. Niobe who, lamenting the death of her fourteen children, was turned into a mountain (00:02:39)
Anderssprachiger Titel: 6 Metamorphosen des Ovid für Solo-Oboe op.49
Solist/Solistin: Gregor Zubicky /Oboe
Länge: 02:42 min
Label: Simax PSC1022