Licht- und Schattenspiel mit Wolken, Vögel

APA/DPA/NICOLAS ARMER

Medizin und Gesundheit

Die lebenslangen Folgen weiblicher Genitalverstümmelung

Grausame Tradition

Vor rund 25 Jahren hat die aus Somalia stammende Waris Dirie am Höhepunkt ihrer Model-Karriere über ihre eigene Beschneidung als schwerwiegendes Kindheitstrauma gesprochen. Die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) wurde damit erstmals öffentlich thematisiert. Ihr Buch "Wüstenblume" ein Bestseller, sie selbst zur UN-Sonderbotschafterin gegen FGM. Dennoch werden nach wie vor weltweit rund 3 Millionen Mädchen jährlich beschnitten.

Verstümmelnder Eingriff am weiblichen Genital

Die Prozedur ist martialisch: Teilweise ohne Betäubung und mit unsterilen Messern, Rasierklingen, Scheren oder Glasscherben werden, meist von lokalen Heilerinnen oder Beschneiderinnen, die äußeren Geschlechtsorgane verstümmelt. Betroffen sind Mädchen zwischen dem vierten und achten Lebensjahr, zunehmend auch Säuglinge.
Die WHO unterscheidet vier verschiedene Typen von FGM, die von Beschädigungen, bis hin zur Amputation des äußeren Genitals reichen. Bei der Infibulation werden etwa Klitoris und Schamlippen herausgeschnitten und die Schamlippenstümpfe danach zusammengenäht, sodass nur eine winzige Öffnung zum Urinieren bleibt. Langfristig kommen chronische Schmerzen, Inkontinenz, etc. hinzu.

Korrektes Wording

FGM wird in rund 30 Ländern praktiziert. Bis auf Mali, Liberia, Sierra Leone, Malawi, Somalia und dem Sudan ist die weibliche Beschneidung per Gesetz zwar verboten, wird aber nur selten sanktioniert.
Woher die Praxis kommt, die oft als Initiationsritual ein Mädchen zur "vollwertigen" Frau machen soll, ist nicht ganz klar. Sie wird seit über 2.000 Jahren durchgeführt, Belege für einen religiösen Hintergrund scheint es nicht zu geben. International stehen WHO, UNICEF und NGOs der Tradition weiblicher Beschneidung ablehnend gegenüber und stufen sie als Verletzung der Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit ein.
Mit der nun üblichen Bezeichnung der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM, Female Genital Mutilation) nimmt man bewusst eine wertende Haltung ein, da der Begriff der Beschneidung (FGC, Female Genital Cutting) das Ausmaß des Eingriffes verharmlost. Außerdem setzt sie mit der ebenfalls kulturell oder religiös begründeten männlichen Zirkumzision gleich, die keine medizinisch derart nachteilige Auswirkung für die Betroffenen mit sich bringt. Im direkten Kontakt bedarf es jedoch viel Fingerspitzengefühls, auch was das Wording einer FGM betrifft, wie man im Frauengesundheitszentrum FEM Favoriten zu berichten weiß - vor allem um betroffene Frauen, nicht als "Verstümmelte" zu bezeichnen und damit erneut zu traumatisieren.

Zwischen Tradition und Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit

Eine moralisierende Haltung einzunehmen sei jedoch kontraproduktiv, so die Gynäkologin Susanne Hölbfer, die zu den wenigen heimischen Expertinnen gehört, die sich auf die Betreuung und operative Behandlung von Frauen nach FGM spezialisiert hat. "Man kann davon ausgehen, dass Eltern ihren Kindern nichts Schlechtes wollen, sondern oft einfach zu wenig wissen. Daher ist das Ziel, alle Betroffenen so aufzuklären, dass verstanden wird, was eine Beschneidung für dramatische Konsequenzen mit sich bringt." Der Druck auf die Mädchen ist hoch, nicht nur der Familie, sondern auch der Peer-Group. Eine Beschneidung ist nötig, um als zugehörig zu gelten.
Die Sozialanthropologin Ines Kohl warnt indes vor einem neokolonialen, eurozentristischen Ansatz, ohne Kenntnis des soziokulturellen Umfeldes. Die Aufklärung durch Menschen, die zum lokalen Kulturkreis gehören, sei der bessere Weg.

Aufklärung in den betroffenen Ländern

Die Aktion Regen ist eine jener Organisationen, die hier vor Ort tätig sind, um die weibliche Beschneidung zu thematisieren. Dabei geht es um mehr als die bloße Verletzung der körperlichen Integrität, wie Ines Kohl meint: "Nach dem ,cut' verlassen die Mädchen meist die Schule, werden verheiratet, schlittern dann oft von einer ungeplanten Schwangerschaft in die nächste, haben keine Aussicht auf Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit, weil sie keine Bildung, keine Arbeit haben".
Die ökonomische Abwärtsspirale betrifft letztlich die ganze Familie.

Univ.-Prof.in Dr.in Karin Gutiérrez-Lobos spricht in der aktuellen Ausgabe des Radiodoktors über Hintergründe und Folgen der weiblichen Genitalbeschneidung, stellt Anlaufstellen für Betroffene und die Möglichkeiten von Korrektur-Eingriffen vor.

Sendungsvorbereitung: Dr. Ronny Tekal
Redaktion: Dr. Christoph Leprich und Lydia Sprinzl, MA

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.

Sind Sie selbst von FGM betroffen?
Arbeiten Sie in einem Bereich, der sich mit dieser Thematik beschäftigt?
Ist die Ächtung derartiger Eingriffe Ihres Erachtens eine unzulässige Einmischung in kulturelle Bräuche?

Hinweis: Film "In Search - Reise zum Frausein" (von und mit Beryl Magoko) am 2.4.2022 um 18:30 im Moviemento Kino in Linz

Service

Zu Gast im Funkhaus Wien:

Umyma El-Jelede
Medizinerin und Gesundheitsberaterin
Expertin für FGM
Frauengesundheitszentrum FEM Süd
Wiener Gesundheitsverbund
Klinik Favoriten
Kundratstraße 3
A-1100 Wien
Tel: +43 1 60191 - 5201
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Am Telefon:

Dr.in Ines Kohl
Sozialanthropologin
Generalsekretärin Aktion Regen - Verein für Entwicklungszusammenarbeit
Mariahilfer Straße 101/1/25
A-1060 Wien
Tel: +43/1/720 66 20
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Homepage

Dr.in Susanne Hölbfer
Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe
Ambulanz für Patientinnen nach weiblicher Beschneidung
Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe
Klinik Ottakring
Montleartstraße 37
A-1160 Wien
Tel: +43 1 49150 4710
E-Mail
Homepage

Weitere Anlaufstellen und Info-Links:

FGM Anlaufstellen in Österreich
Österreichische Plattform gegen weibliche Genitalverstümmelung
Aktion Regen - Verein für Entwicklungszusammenarbeit, FGM-Rainworkers
WHO zur Genitalverstümmelung
FEM Süd, Gesundheitszentrum Wien
Weltweiter Tag der genitalen Selbstbestimmung 7.5.2022
Maßnahmen gegen FGM (Stadt Wien)
Wiener FGM-Ambulanz betreut beschnittene Frauen und Mädchen (vienna.online)
Female Genital Mutilation (universimed)
Terre des femmes - Menschenrechte für die Frau
Desertflower-Foundation
Interview mit Waris Dirie

Buch-Tipps:

Waris Dirie, "Wüstenblume", Knaur 2018

Ursula Walch, "Blutiges Brautgeld: Afrikas beraubte Frauen - eine Hebamme klagt an", Braumüller-Verlag 2020

Ntailan Lolkoki, "Flügel für den Schmetterling: Der Tag, an dem mein Leben neu begann", Knaur 2017

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