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Radiogeschichten

"Ex libris"-Nachlese: Andrea Roedig, "Man kann Müttern nicht trauen". Es liest Silvia Meisterle

"Man kann Müttern nicht trauen", so lautet der lakonische Titel von Andrea Roedigs literarischer Abrechnung mit dem fragilen Lebensgefühl einer Frau, die nie erfahren hat, was es bedeutet, sich bedingungslos auf einen Menschen zu verlassen. Zugleich entsteht das Porträt einer gutbürgerlichen Familie der Nachkriegsgeneration - mit all den Dramen hinter der prächtigen Fassade. Dafür setzt die Ich-Erzählerin bei der Biografie ihrer Mutter an. Lilo ist attraktiv und extravagant. Sie fasst den Plan, ihr Aussehen als Kapital einzusetzen: Sie will raus aus der Umklammerung ihrer engstirnigen Mutter, die mit ihrem Los als Kriegerwitwe hadert. Franz-Josef, Sohn einer gutsituierten Metzgerfamilie, trifft Lilos Beuteschema ziemlich exakt, ein hübscher Bursche, selbstbewusst und spendabel. Die Heirat wird zum Sprungbrett in die bessere Gesellschaft. Lilo avanciert zur Chefin, die hart mit anpackt im Geschäft und dafür den neuen Luxus genießt.

Zwei Kinder krönen die Ehe. Man lebt auf großem Fuß, ohne ans Morgen zu denken. Der Porsche und die Urlaube, das kostet ordentlich Geld. Aber so ist es eben in jenen Jahren, da man die Entbehrungen des Krieges zu vergessen sucht. Viele beneiden die Familie um ihren Wohlstand. Wie es hinter den Kulissen aussieht, zwischen den vier Wänden, das wissen nur Andrea und ihr etwas jüngerer Bruder Christoph. Sie beobachten die Eltern, wenn sie sich am Wochenende immer heftiger betrinken. Der Medikamentenschrank ist gut gefüllt mit Antidepressiva und Tranquilizern. Die Mutter greift gerne zu Glückspillen, wird dann zusehends merkwürdig, sackt in sich zusammen und wirkt abwesend und unerreichbar. Wenn sie schlecht drauf ist, geht sie gegen die Kinder vor, wird unberechenbar, bösartig, ja regelrecht sadistisch. Wer ihr in diesem Zustand in die Quere kommt, muss auf der Hut sein.

Und wer von ihr Zuneigung erhofft, ist ohnehin auf verlorenem Posten. Liebe gibt es nicht, allenfalls sporadisch und in Mini-Dosen. Andrea Roedig macht schnell klar, dass die Geschichte von den Müttern, denen man nicht trauen kann, in ihrer Biographie wurzelt. Entsprechend schwer ist ihr Buch einzuordnen, zumindest zu Beginn. Es ist weder Roman noch Bericht einer verpfuschten Kindheit und Jugend, die sich nicht so leicht abschütteln lassen. Die Bezeichnung Autofiktion trifft die Methode, die Roedig wählt, wohl am besten: Die Autorin hangelt sich den eigenen Erinnerungen entlang, sichtet ihre Tagebücher, tauscht sich mit Bruder und Verwandten aus und zeichnet damit das Panorama einer Familie, das in der Zeitgeschichte verankert ist.
Gestaltung: Peter Zimmermann

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Andrea Roedig, "Man kann Müttern nicht trauen", dtv

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  • Peter Zimmermann

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