Hochgestreckte Faust

AP/MATT SLOCUM

Radiokolleg - Der Wille

Höhen und Tiefen des menschlichen Wollens (1). Gestaltung: Johannes Gelich

Bereits der römische Kirchengelehrte Augustinus von Hippo beschäftigte sich Ende des 4. Jahrhunderts in seiner Schrift "De libero arbitrio" mit dem freien Willen und seinen Grenzen. "Gott im Herzen der Menschen wirkt, um ihren Willen dahin geneigt zu machen, wohin immer er will: entweder zum Guten gemäß seiner Gnade oder zum Bösen nach ihren bösen Verdiensten." Für Arthur Schopenhauer war der Wille nicht nur die Triebfeder allen Handelns von Mensch und Tier, sondern auch die metaphysische Erklärung der Naturgesetze. Die Welt war in den Augen des Philosophen nichts anderes als blinder, vernunftloser Wille. Da der Wille alle Vorgänge der organischen und anorganischen Natur bestimmt, objektiviert er sich laut Schopenhauer in der Erscheinungswelt als Wille zum Leben und zur Fortpflanzung.

Doch wie manifestiert sich im modernen Menschen der Wille, etwas zu tun oder nicht zu tun? Treffen wir tatsächlich freie Willensentscheidungen kraft unseres Verstandes, oder sind unsere Handlungen durch unsere Kindheit, unseren Charakter, unsere Gene von Geburt an vorbestimmt? Auch moderne Wissenschaften wie die Gehirnforschung beschäftigen sich mit dem Konzept der Willensfreiheit aus neurowissenschaftlicher Sicht. Auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie widmet man sich der Frage, wann und wie der heranwachsende Mensch einen eigenen Willen entwickelt. Ein entscheidender Schritt ist dabei auch die Negation des Willens der anderen mit der Behauptung: Ich will nicht.

Gerade Fallgeschichten von Menschen, die trotz schwerer Beeinträchtigungen oder Behinderungen Außergewöhnliches im Sport oder Alltag zu leisten imstande sind, belegen oft das Sprichwort: "Der Wille versetzt Berge". Doch wo sind die Grenzen des Wollens, wo das Entfaltungspotential des menschlichen Willens leicht in Ideologie umschlagen kann. Frei nach dem Motto: "Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst." Die Ideologisierung des Wollens als Aufforderung zur totalen Selbstoptimierung hat gerade in den letzten Jahrzehnten auch zu einer Hinwendung zu fernöstlicher Philosophie und Religion geführt.

Ein zentraler Begriff der daoistischen Philosophie und Religion ist dabei die Anschauung des "Wu wei", des Nicht-Handelns. Wu Wei wird mit einer Haltung der inneren Stille umschrieben, die zur richtigen Zeit die richtige Handlung ohne Anstrengung des Willens hervortreten lässt. Auch Arthur Schopenhauer, ein Bewunderer der altindischen hinduistischen Upanishaden, sah in der Verneinung des Willens zum Leben die Chance auf innere Ruhe. Die Welt war für den Philosophen ein "Jammertal" voller Leiden, alles Glück nur Illusion und alle Lust nur negativ. Der rastlos strebende Wille wird, laut Schopenhauer, durch nichts endgültig befriedigt. Für das Glücksversprechen, die vom Willen gesteuerte Vernunft mittels Meditation zumindest kurzfristig auszuschalten, sind heute im 21. Jahrhundert viele Menschen sogar bereit, viel Geld zu bezahlen.

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Literatur- und Link-Liste:

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Nietzsche: Hauptwerke, Kommentiert, aktuell, mit Einleitung und Zeittafel, hrsgg. v.: Felix Christen, Alfred Kröner Verlag, 2014

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Anaconda Verlag, 2009

Materialien zu Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung", hrsgg. v. Volker Spierling, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1984

Michel Foucault (Autor), Walter Seitter (Übersetzer): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, suhrkamp taschenbuch, 1993

Sandra Lee Bartky (Autor): Femininity and Domination: Studies in the Phenomenology of Oppression (Thinking Gender), Routledge, 1991

Serene J. Khader (Autor): Decolonizing Universalism: A Transnational Feminist Ethic (Studies in Feminist Philosophy), Oxford University Press, 2018

Gerhard Benetka (Herausgeber): Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie: Traditionen in Europa, Indien und China (Diskurse der Psychologie), Psychosozial-Verlag, 2018

Stefanie Höhl (Autor), Sarah Weigelt (Autor): Entwicklung in der Kindheit (4-6 Jahre). Mit Online-Material, Basiswissen Frühpädagogik, Ernst Reinhardt Verlag, 2015


Gerda Falkner: Digitalisierung und freier Wille, Vortrag für den Club of Vienna, 2021
https://www.youtube.com/watch?v=s4ePkO3rhLQ


Paraschwimmer Andreas Onea:
http://www.andreasonea.at/

Katharina Afflerbach (Autor): Manchmal sucht sich das Leben harte Wege: Wahre Geschichten, die berühren und Zuversicht geben, Goldegg Verlag, 2021

BodhidharmaZendo Wien
Seigaku Kigen Osh:
http://bodhidharmazendo.at/

Hisaki Hashi (Autor): Lebendiger Zen - Lebendige Philosophie: Dogen: shobo genzo - Besinnen im wahrhaften 'dharma' Buddhas, LIT Verlag, 2020

David Fraissl (Autor): Psychologische Bildung: Eine philosophische Annäherung,Springer, 2022

Philosophische Praxis Alfred Pfabigan
http://alfredpfabigan-philosophischepraxis.at/

Sendereihe

Gestaltung

  • Johannes Gelich