Eric Frey über Schawuot

9. Juni 2022, 06:56

In diesen Wochen tobt in den USA ein Kampf um und im Obersten Gerichtshof, dem Supreme Court. Die konservative Richtermehrheit will jene Grundsatzentscheidung zu Fall bringen, mit der vor 40 Jahren das Abtreibungsrecht liberalisiert wurde.

Sie behaupten, dass ihre Vorgänger die Verfassung viel zu freizügig ausgelegt und Dinge hineingelesen haben, die dort nicht stehen. Nur das habe zu gelten, was die Autoren der Verfassung im Jahre 1787 gewollt und formuliert haben. Originalisten nennt man diese Schule. Ihnen stehen die liberalen Richterinnen und Richter gegenüber, die das alte Dokument an die Bedürfnisse der heutigen Zeit anpassen wollen. Was würden die Gründerväter der USA, die damals sehr progressiv waren, heute beschließen? Nach der Antwort auf diese Frage richten sie ihre Rechtsprechung aus.

Das konnte man in den letzten Jahren auch in Österreich beobachten, wo der Verfassungsgerichtshof mit der Ehe für alle, dem dritten Geschlecht oder der Sterbehilfe Rechte anerkannt hat, die noch vor 30 Jahren nicht vorstellbar gewesen wären. Dieser Konflikt entspannt sich auch zwischen orthodoxem und liberalem Judentum, und er kann hitzig werden. Die einen werfen den anderen Beliebigkeit vor, die anderen wiederum kritisieren unduldsamen Dogmatismus.

Liberale Jüdinnen weisen darauf hin, dass auch orthodoxe Rabbiner seit der Zeit, als Moses die Gesetze in Empfang genommen haben soll, diese immer wieder neu interpretiert haben. Orthodoxe Juden warnen davor, dass vom Glauben und der Tradition nicht viel übrigbleibt, wenn alles dem momentanen Nutzen und der Bequemlichkeit untergeordnet wird. Ähnliche Debatten finden auch im Islam oder in der katholischen Kirche statt, und es gibt darauf niemals die eine wahre Antwort.

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• Alexandra Mantler